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Michael Räber in der Türkei: Der ewige Helfer

Quelle
Berner Zeitung BZ

Vor sechs Monaten hätte der Münsinger Flüchtlingshelfer Michael Räber heimkehren wollen. Doch weil die Krise nicht endet, leitet er nun zwei Camps in Griechenland und plant, seine Operationen in die Türkei auszuweiten. Unterwegs mit einem Rastlosen.

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Hilfslieferung in einem informellen Camp im Westen der Türkei. Die Menschen leben in einfachen Zelten in der Nähe der Gemüsefelder und arbeiten für 10 bis 15 Franken pro Tag. (Bilder: Christian Zeier)
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Michael Räber und sein Team kaufen im Supermarkt in Torbali Lebensmittel für die Flüchtlinge.
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Der Muhtar, Oberhaupt einer Zeltsiedlung bei Torbali.
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Michael Räber steht vor dem geöffneten Kofferraum eines Lieferwagens und erklärt einer Gruppe syrischer Männer, dass es keine Hähnchen mehr gibt. «Sag ihnen, dass wir kein Essen mehr haben», bittet er den Übersetzer. «Und sag ihnen, dass wir wiederkommen. Wir werden sie nicht vergessen.»

Die Männer nicken, es werden Hände geschüttelt und Gruppenfotos gemacht. Drei weitere illegale Camps will der Berner Flüchtlingshelfer an diesem Tag noch besuchen. Die Zeit ist knapp, aber Räber im Element. Mehrere Tausend syrische Flüchtlinge sollen sich im Distrikt Torbali, nahe der westtürkischen Hafenstadt Izmir, aufhalten. «Es gibt hier keine Infrastruktur und fast keine Hilfe», sagt Räber. Er will Essen verteilen, Öl, Mehl, Zucker, Hähnchen – es ist das Gegenteil dessen, was der Berner einst plante.

Gefangen im eigenen System

«Drei Monate noch, dann kann ich nicht mehr», hatte der Flüchtlingshelfer dieser Zeitung im Dezember gesagt. Er wollte zurückkehren in sein früheres Leben, zurück nach Münsingen, als IT-Berater arbeiten und seiner Frau, die als Tierärztin arbeitet, den Rücken freihalten. Jetzt sind neun Monate vergangen, und Räber ist noch immer da. Er führt zwei Flüchtlingscamps in Griechenland, verteilt Essen in der Türkei und nimmt politisch Einfluss in der Heimat – innert einem Jahr ist der Münsinger zum wohl bekanntesten Gesicht der privaten Schweizer Flüchtlingshilfe geworden.

Sonntagabend im Hotel Birlik, wenige Kilometer ausserhalb von Izmir. Michael Räber sitzt an der Aussenbar neben dem Pool und wartet auf seine Helfer. Noch am Mittwoch war er in Bern, Fototermin für den «Beobachter», das Magazin hat ihn für den Prix Courage nominiert. Statt nach Münsingen zurückzukehren, reist Räber in Europa umher, beantwortet täglich mehr als hundert Mails, organisiert Spenden und Anfragen von Freiwilligen. «Ich weiss nicht, wer das alles machen soll, wenn ich aufhöre», sagt Räber. Er ist Gefangener eines Systems, das er geschaffen hat.

Als Michael Räber im August 2015 während seiner Ferien in Athen auf Flüchtlinge trifft, denen es an allem fehlt, entschliesst er sich zu handeln. Er organisiert erste Spenden in der Schweiz, kehrt zurück nach Griechenland und beginnt eine Odyssee durch die Flüchtlingskrise. Er hilft bei der Bootsrettung auf Lesbos und steht vor deutsche TV-Kameras, als im Oktober 2015 bei einem Bootsunglück sechzig Menschen ums Leben kommen. Er sagt: «Es ist ein Skandal, dass so etwas in Europa passiert.» Und: «Wir müssen das Recht auf Leben höher gewichten als die Gesetze gegen illegale Migration.»

Der Schweizer, der kein Blatt vor den Mund nimmt, kommt bei Medien und Öffentlichkeit gut an. Er ist direkt und agiert sachlich. Weinen, so sagt Räber einmal, könne er allein unter der Dusche. Weil immer mehr Freiwillige für ihn arbeiten wollen, nennt er seine lose Vereinigung Schwizerchrüz.ch und druckt rote T-Shirts mit weissen Kreuzen. Die Arbeit ist belastend, Räber schläft wenig. Man könne das nicht ewig machen, sagt er. Man müsse die eigenen Grenzen kennen. Das ist im Dezember 2015.

Doch zu diesem Zeitpunkt überlegt sich Räber bereits, wo seine Hilfe noch dringender gebraucht wird als in Griechenland. Er möchte Flüchtlinge in der Türkei unterstützen, bevor sie den gefährlichen Weg über das Meer antreten. Doch dann kommt Idomeni dazwischen.

Weil Mazedonien seine Grenze zu Griechenland schliesst, bleiben nördlich von Thessaloniki Tausende Flüchtlinge unter schlimmen Bedingungen stecken. Räber und sein Team reisen nach Idomeni und helfen aus. Als die Polizei das Camp räumt, verteilen sich die Menschen auf kleinere, oft informelle Lager in der Region. Obschon Räber stets betont hat, nur Lücken füllen zu wollen, verpflichtet er sich erstmals längerfristig: Er kooperiert mit der griechischen Armee und hilft der Regierung, ein Flüchtlingslager in Sindos aufzubauen.

Seit Ende Mai ist das Schweizer Team in der ehemaligen Lederfabrik tätig, im Juli ist ein zweites Lager dazugekommen. Dennoch ist Schwizerchrüz.ch noch immer weder Verein noch NGO. Noch immer agieren alle Freiwilligen als private Helfer. «So sind wir schneller und effizienter», sagt Michael Räber. Eine Professionalisierung hält er nicht für erstrebenswert, die grossen Organisationen, die sehr träge agieren, sind ihm abschreckendes Beispiel. «Wir wollen unauffällig agieren, um uns Handlungsfreiheit zu bewahren», schreibt Räber seinem Team zu Beginn der Türkei-Mission in den Whatsapp-Chat. «Publiziert keine Daten und Lokalitäten, solange wir im Land sind.» So beginnt die Reise zu den Camps von Torbali.

Tiefe Löhne und Kinderarbeit

Ein auffällig gelber Seat rast über die Strasse von Izmir nach Torbali. Im Auto: der Fahrer, Michael Räber und auf dem Rücksitz Ahmed, der aus Syrien geflohen ist. Aus Angst vor Repressionen möchte der Mann seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Er hatte in Syrien einen angesehenen Job, zwei Häuser, ein gutes Leben – jetzt lebt er mit seiner Frau und den Kindern in einer kleinen Wohnung in Izmir und engagiert sich für geflohene Landsleute in der Region. Auf seinem Smartphone zeigt er Bilder von verstümmelten Kindern und Leichenteilen. «So sieht es zu Hause aus», sagt Ahmed. «Deshalb sind wir hier.»

Der Seat durchquert das Zentrum von Torbali, biegt nach rechts in eine Seitenstrasse ab, dann auf einen Feldweg, an Maisfeldern und Bauernhöfen vorbei. Ahmed weist den Weg. Er kennt die Camps seiner Landsleute. In einer ärmlichen Zeltsiedlung am Rand eines Salatfeldes werden Michael Räber und sein Team von einer Gruppe Männern empfangen. Im Hintergrund kochen Frauen, Kinder spielen, die Möblierung der Zelte besteht aus nichts ausser Teppichen. Dreissig Personen würden hier leben, erklärt der Muhtar, das Oberhaupt der Gemeinde. Seit drei Jahren seien sie in der Türkei. «Wir sind froh, dass ihr uns Essen bringt», sagt der stämmige Mann mit dem buschigen Schnauz. «Aber unser grösster Wunsch ist es, nach Syrien zurückzukehren. Wer kann uns da helfen? Niemand!» Michael Räber bietet ihm eine Marlboro an. «Wir würden das gern ändern», sagt er. «Aber wir können nichts tun. Und unsere Regierung will nicht.» Der Muhtar nickt. Dann beginnt er vom Alltag auf den türkischen Feldern zu erzählen.

45 Lira oder 15 Franken verdienen die Männer und Frauen pro Tag. Die Kinder arbeiten ab 11 oder 12 Jahren und bekommen etwas weniger. Nicht selten dauert ein Arbeitstag zwölf Stunden. Jetzt gerade hätten sie Glück, sagt er, sie hätten Arbeit und könnten am Feldrand gratis wohnen. «Aber manchmal haben wir monatelang nichts zu tun, vor allem im Winter. Dann verdienen wir gar nichts. Und wenn wir etwas verdienen, sind die Löhne oft noch schlechter. Wir können uns ja nicht wehren.»

Die Kinder könnten theoretisch in Izmir zur Schule gehen, doch dort gebe es keine Arbeit, keine Wohnungen, den Transport könnten sie sich nicht leisten. Auch die Spitäler seien gratis, doch die Medikamente sehr teuer. «Versteht ihr, wie das System funktioniert? In der Theorie haben wir alles, aber eigentlich haben wir nichts.» Jetzt bietet der Muhtar Zigaretten an. «In Syrien hatten wir ein gutes Gesundheitssystem, gute Schulen, alles gratis», sagt er. «Es war ein schönes Land.» Der Mann wendet den Kopf ab, blickt über das Feld, gedankenverloren, als er sich wieder der Runde zuwendet, hat er feuchte Augen.

So lange seien sie nun schon in der Türkei, hätten gewartet, gearbeitet, doch in Syrien sei immer noch Krieg, und hier gebe es keine Zukunft. «Wir überlegen uns, nach Europa zu gehen», sagt der Muhtar. «Wir wollen nicht, schon gar nicht mit dem Boot. Aber hier bleiben ist noch schlimmer.»

Michael Räber nickt. Deswegen ist er hier.

Dialog mit SP und SVP

Auf der Fahrt zum nächsten Camp lässt Ahmed Dampf ab. «Die Polizei hindert Flüchtlingshelfer daran, diese Menschen zu unterstützen», sagt er. «Sie behauptet, die Regierung sei zuständig. Aber die tut gar nichts!» Er kenne so viele Syrer in der Region, die keine Hoffnung mehr hätten, in der Türkei je dazuzugehören. Ohne Unterstützung der Regierung sei es kaum möglich, einen Job zu finden und vorwärtszukommen. «Habt ihr gesehen, wie die hier leben? Für die Türkei sind wir keine Flüchtlinge. Wir sind nur billige Arbeitskräfte!»

Rund drei Millionen Syrer sollen in die Türkei geflohen sein. Nicht erst seit dem Deal mit der EU nimmt das Land eine zentrale Rolle in der Flüchtlingskrise ein. Zum Vergleich: In ganz Europa wurden zwischen April 2011 und Juli 2016 etwas mehr als eine Million Asylgesuche gestellt. Der Türkei die Schuld zu geben, sei daher zu einfach, findet Michael Räber. «Wir müssen das Land unterstützen und den Menschen eine Perspektive bieten. Dann bleiben die meisten hier.»

Der Münsinger hört jetzt eine Sprachnachricht ab, SP-Nationalrätin Chantal Galladé berichtet von einem Treffen mit Bundesrätin Sommaruga. «Das schaffen wir jetzt», sagt die Politikerin hoffnungsvoll. Es geht darum, Kontingentsflüchtlinge aus Griechenland in die Schweiz zu holen. «Galladé hat im Juli im Lager in Sindos mitgeholfen», erklärt der Münsinger die Verbindung. Aber auch Andreas Glarner, Asylchef der SVP, sei schon bei ihnen gewesen. «Parteien interessieren mich nicht», so Räber. «Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft sind schliesslich keine Frage der politischen Ausrichtung.» Mit dieser Einstellung will er Parlamentarier aller Couleur für die Sache der Flüchtlinge gewinnen. Das Ziel: Unterstützung vor Ort und legale Einreise in die Schweiz für möglichst viele Syrer.

Wird Vater Räber sesshaft?

Am Abend sitzt das Team wieder am Hotelpool und zieht Bilanz. Vier Camps hat man an diesem Tag besucht, ein ähnliches Programm ist für die nächsten Tage vorgesehen. Dann geht es zurück nach Griechenland, neu formieren und Pläne schmieden. Michael Räber aber weiss schon jetzt, dass er bald in die Türkei zurückkehren wird. «Das ist mein Ding», sagt er. «Einspringen, wo sonst niemand hilft.» Wer ihm zuhört, glaubt nicht, dass er bald aufhören könnte. «Irgendwann wird es zu viel, du kannst nicht mehr oder brennst aus», sagt er. «Ich habe aber noch Energie, um weiterzumachen.»

Und doch: Diesmal ist alles anders. In ein paar Monaten erwarten Räbers ihr erstes Kind. «Wenn mir vor zwei Jahren einer gesagt hätte, dass ich während der Schwangerschaft meiner Frau nicht zu Hause sein würde, hätte ich gesagt: Du spinnst.» Bis zur Geburt will Räber weitermachen, dann heimkehren und da sein für Frau und Kind. «Diesmal gehe ich wirklich», sagt er. Spenden auftreiben und Dinge organisieren könne er auch von zu Hause aus. Von einer Rückkehr ins alte Leben aber – davon ist keine Rede mehr.


Autor:in
Christian Zeier, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 24.09.2016
Geändert: 24.09.2016
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