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Münsingen - Immer mehr Gewalt in der Klinik

Quelle
Berner Zeitung BZ

Schon wieder steht ein Patient des Psychia­triezentrums Münsingen vor Gericht. Die Zahl der Gewalttaten gegenüber dem Personal steigt – doch es gibt erfolgreiche Rezepte dagegen.

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Mitarbeitende des Psychiatriezentrums sind immer häufiger mit Gewalteskalationen konfrontiert. (Bild: Urs Baumann)
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PZM-Direktor Rolf Ineichen: «Viele Patienten, die uns zugewiesen werden, sind ganz klar gewaltbereiter als früher.» (Bild: Andreas Blatter)
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Es war ein schwarzer Tag für den Patienten des Psychiatriezen­trums Münsingen (PZM). Am Nachmittag des 31. Januar 2014 wurde einem damals 39-jährigen Mann im Haus 47 mitgeteilt, dass er das Zentrum sofort verlassen müsse. Denn zuvor war er mehrmals ausfällig geworden. Den Verweis wollte er allerdings nicht akzeptieren. Und so hob er einen Stuhl aus Holz und Metall über seinen Kopf und versuchte, damit auf den Kopf einer Pflegerin einzuschlagen.
 

Andere Angestellte konnten ihn noch daran hindern.Dann wurde er nach draussen geführt, wo er sich aber keineswegs beruhigte. Er nahm einen vier Kilo schweren Stein in die Hand und schleuderte ihn in ein Zimmer des Hauses. Darin befanden sich gleich mehrere Personen, der Stein prallte aber an die Wand. So steht es in der Anklageschrift. Wegen dieser beiden Vorfälle und wegen weiterer Delikte steht der Mann nun vor Gericht (siehe unten).

Es ist gerade einmal vier Monate her, dass sich ein anderer Patient der Münsinger Klinik in Bern vor Gericht verantworten musste. Anfang 2015 hatte ein Mann heisses Wasser über eine Pflegerin geschüttet. Wegen seiner schwerwiegenden psychischen Krankheit war er aber schuldunfähig, weshalb ihn das Gericht letzten November vom Vorwurf der schweren Körperverletzung freisprach. Der Mann leidet unter Schizophrenie.

Mehr Anzeigen durch Polizei

Diese beiden Vorfälle machen deutlich, was PZM-Direktor Rolf Ineichen bestätigt: Mitarbeitende des Psychiatriezentrums sind immer häufiger mit Gewalteskalationen konfrontiert. «Viele Patienten, die uns zugewiesen werden, sind ganz klar gewaltbereiter als früher», sagt Ineichen. Zu Gerichtsfällen komme es zwar relativ selten, aber die Zahl der Anzeigen durch die Polizei nehme zu. Und auch die Polizeiinterventionen am PZM seien in den letzten Jahren klar gestiegen. Im Schnitt gebe es heute pro Woche drei Polizeieinsätze.
 

Das Psychiatriezentrum selbst sei zurückhaltend mit Anzeigen, und zwar aus einem besonderen Grund: «Wenn Patienten wegen Unzurechnungsfähigkeit von einem Gericht freigesprochen werden, wird diese Gewaltbereitschaft nur bestärkt», sagt Ineichen. «Das wollen wir vermeiden.» Wenn allerdings jemand gezielt und bewusst die Grenze überschreite, werde das PZM ­aktiv.

Drei Gruppen von Tätern

Der Direktor unterscheidet bei Psychiatriepatienten drei Gruppen von Gewalttätern. Personen der ersten Gruppe fühlen sich bedroht, glauben im Wahn, dass sich die ganze Welt gegen sie verschworen habe. Bis zu dem Punkt, an dem sie sich mit Gewalt zu wehren beginnen.

Patienten aus der zweiten Gruppe werden dann handgreiflich, wenn sie sich in einem Erregungszustand, unter einem psychischen Druck, befinden. Und in der dritten Gruppe befinden sich Personen, die aufgrund ihrer Persönlichkeit und/oder ihrer Lebensgeschichte dazu neigen, die Umgebung mit Drohungen und Gewalt zu beeinflussen. «Es gibt auch Mischformen», sagt In­eichen.

Erfolgreiche Schulung

Natürlich schaut das PZM nicht einfach tatenlos zu. Seit mehreren Jahren bietet es seinen Mitarbeitenden eine interne Schulung für den Umgang mit gewalttätigen Patienten an. Für diesen Kurs hat das Psychiatriezentrum einen Preis gewonnen, und es bietet die Schulung auch externen Stellen an. «Zum Beispiel die Sozialdienste sind ebenfalls oft mit Gewalt konfrontiert.» Weiter habe die Politik der offenen Türen auf allen Stationen dazu geführt, dass sich die Gewalt am PZM in einem einigermassen erträglichen Rahmen halte.

Die Psychiatrie sei kein rechtsfreier Raum, betont Rolf Ineichen. Die Patienten hätten sich an klare Regeln zu halten. Und auch für die Angestellten gebe es strenge Vorschriften, wie sie in Extremsituationen reagieren dürfen.

Der Gerichtsfall: Welche Therapie ist die richtige?

Die Verhandlung hätte gestern um 8.15 Uhr beginnen sollen: Derzeit muss sich ein 42-jähriger Mann wegen einer Reihe von Delikten vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland verantworten. Er soll im Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) gewalttätig geworden sein (siehe oben).

Zudem soll er im Jahr 2014 mehrmals Polizisten bedroht, mit Füssen getreten und aufs Übelste beschimpft haben. Weitere Delikte wie Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch vervollständigen die Anklage.

Vor Gericht erschien der Angeklagte aber erst mit anderthalbstündiger Verspätung. Er hatte verschlafen und vor Verhandlungsbeginn erst einmal ein Bier gebraucht. Der Mann leidet unter einer Persönlichkeitsstörung und ist suchtkrank. Die Einvernahme durch den Gerichtspräsidenten brachte ihn darauf, dass er vergessen hatte, eine Tablette zu schlucken. Kurzerhand warf er ein krampflösendes Präparat ein. Später mischte er sich immer in die Verhandlung ein.

Staatsanwalt Silvano Flückiger beurteilte die Tat im PZM als versuchte schwere Körperverletzung. «Es hätte zu schweren Verletzungen kommen können.» Der Angeklagte sei sehr schnell reizbar, aggressiv und unberechenbar. Flückiger beantragte eine Freiheitsstrafe von 27 Monaten, zudem eine stationäre Massnahme inklusive einer ambulanten psychotherapeutischen Behandlung. Dabei stützte er sich auf ein Gutachten.

Verteidiger Martin Schmutz verlangte hingegen einen Freispruch für die Tat im PZM. «Es ist unklar, ob er jemanden hätte verletzen können und ob er dies auch wollte.» Für die Gewalt und Drohung gegen Beamte sowie die restlichen Delikte beantragte er eine bedingte Geldstrafe von 60 Tagessätzen. Von der stationären Massnahme wollte er nichts wissen. «Es läuft bereits eine gut funktionierende Therapie.» Seit 2014 habe sein Mandant nie mehr ein Gewaltdelikt verübt, sei nicht rückfällig geworden.

Das Urteil wird am Freitag verkündet.


Autor:in
Johannes Reichen, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 02.03.2017
Geändert: 02.03.2017
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