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Motorrad - Stark wie nie

Quelle
Berner Zeitung BZ

Vor dem GP Aragon wirkt Tom Lüthi sehr fokussiert und selbstbewusst. Der Berner strebt in den letzten fünf Saisonrennen den WM-Titel in der Moto-2-Kategorie an.

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In der Form seines Lebens: Tom Lüthi im Fitnesscenter seines Vertrauens in Lützelflüh. (Bild: Beat Mathys)

Töff Lüthi Sportler des Jahres. Roger Federer Weltsportler.

Vor 12 Jahren bewies die Schweiz ihre Eigenwilligkeit, als Federer Wimbledon und das US Open gewann, endgültig zum globalen Superstar aufstieg, in der Heimat aber von einem 19-jährigen Töfflibub bei der Auszeichnung des besten Sportlers geschlagen wurde. Die Journalisten hatten zwar Federer gewählt, das Publikum bei der TV-Abstimmung aber sympathisierte mit Lüthi und hievte den sensationellen Motorsportweltmeister in der drittklassigen 125er-Kategorie überraschend auf den Thron.

2005 ist lange her. Angela Merkel, Deutschlands Mutti, trat ihr schier ewiges Amt als Kanzlerin Ende Jahr an, das iPhone gab es nicht, der zuweilen seltsame Musikgeschmack in der Schweiz führte «Schnappi, das kleine Krokodil» auf Rang 1 der Hitparade.

Lüthi und Federer sind immer noch da. Und nicht wegzudenken. Wie Merkel, das iPhone und der seltsame helvetische Musikgeschmack. Der Protagonist dieser Geschichte antwortet im Fitnesscenter seines Vertrauens in Lützelflüh auf die Frage, ob man den besten Tom Lüthi der Geschichte sehe, ohne zu zögern mit: «Ja, auf jeden Fall.» Seine Crew und er haben nach langer Suche endlich die Konstanz auf hohem Niveau gefunden. Der Schlüssel zum Erfolg ist simpel. «Arbeit, Arbeit, Arbeit», sagt Lüthi. «Wir haben den Glauben nie verloren. Und wenn endlich all die kleinen Puzzlesteine passen, läuft es.»

Selbstbewusst wie nie

Und so ist Tom Lüthi auf einmal nach vielen zwar anständigen bis guten, aber nicht brillanten Saisons wieder ein Kandidat für den WM-Titel. Nicht überraschend, aber unerwartet. Jahrelang fuhr der Emmentaler seit seinem Aufstieg in die Moto-2-Klasse 2010 zwar unter die Top 5 der Fahrerwertung, aber der Emmentaler galt bis vor etwas mehr als einem Jahr auch als einer, der oft stürzt – und zwar schnell, aber nicht weltmeisterlich fährt. Saisonübergreifend raste Lüthi in 13 der letzten 17 Rennen aufs Podest, es ist eine herausragende Bilanz, die den 31-Jährigen nahe an seinen zweiten WM-Titel gebracht hat. 9 Punkte liegt er noch hinter Franco Morbidelli, 5 Rennen sind zu fahren, das nächste am Sonntag beim GP Aragon. «Die Ausgangslage ist sehr gut», sagt Lüthi. Er ist selbstbewusst wie nie, austrainiert und ausbalanciert wie nie, reif und geduldig, smart und mental parat wie nie. Morbidelli sei zwar «ein sehr cooler Kerl», aber auch der Italiener werde angesichts dieser engen Situation nervöser, sagt Lüthi. «Die Rolle des Gejagten ist schwieriger als die Rolle des Jägers.»

Das letzte Zeugnis seines Reifeprozesses legte Lüthi vor bald zwei Wochen am GP San Marino ab. Nach einem Trainingssturz am Morgen startete er verunsichert ins chaotische Regenrennen, Morbidelli fuhr vorne davon, und Lüthi ging es nur darum, den Schaden in Grenzen zu halten. Dann stürzte Morbidelli, und Lüthi drehte auf, lag bald hinter Dominique Aegerter auf Rang 2. Natürlich hätte er seinen Landsmann gerne «angegriffen und gefressen. Aber Domi fuhr stark, und ich dachte die ganze Zeit an die 20 Punkte, die ich aufholen kann.» Also verzichtete er auf Attacken, spulte sein Pensum routiniert ab, verteidigte solid Rang 2. Und erklärt ein paar Tage später: «Ich bin stolz, so gefahren zu sein.»

Vorfreude auf letzte Rennen

Vermutlich hätte sich sogar Tom Lüthi einen derart clever fahrenden Tom Lüthi nicht vorstellen können. Denn Entweder- oder-Situationen gibt es bei ihm eigentlich nicht, Vollgas ist das Motto. «Es war speziell, den Sieg nicht zu suchen», sagt er. Die Frage, ob er lieber als Zweiter einen historischen Schweizer Triumph komplettiert oder das Rennen gewonnen hätte, findet er «fies», genau wie jene, was er auswählen würde: WM-Titel oder Moto GP? «Beides will ich», sagt er verschmitzt lachend. Seinen langersehnten, trotz allen Rückschlägen beharrlich verfolgten Traum der Beförderung in die Königsklasse hat er für 2018 schon realisiert. Und logischerweise stehe für jeden Rennfahrer das Siegen im Vordergrund. «Aber der Aufstieg in die Moto GP ist wie ein grosser Sieg für mich», sagt Lüthi. Kompromisse sind seine Sache nicht, und wenn er mal eine Ausnahme macht, liegt der Fokus auf einer noch bedeutenderen Sache – wie im (Nicht-)Duell gegen Aegerter.

Wenn man sich länger mit Lüthi unterhält, spürt man den Hunger, den Willen, die Überzeugung, den WM-Titel gewinnen zu wollen und können. Nach dem GP von Aragon folgen die Rennen weit weg von Europa, in Japan, Australien, Malaysia, die er schätzt, weil deutlich weniger Fans, Sponsoren, Medien dabei sind. Dort ist Lüthi ungestört, die pure Lust am Racen zählt, kein Schnickschnack rundherum.

Gefahr für Federer

Und je länger man mit Lüthi spricht, desto stärker denkt man, dieser unbeugsame Arbeiter aus Linden sei bereit für den Coup. Lüthi ruht in sich, bezog im Sommer nach einem Jahr Bauzeit sein neues Heim neben dem Elternhaus, konzentriert sich als Single auf den Sport, ist an den zahlreichen Widerständen und Rückschlägen in der langen Karriere gewachsen. Und ist ganz im Hier und Jetzt. «Die Moto GP interessiert mich dann einen Tag nach dem letzten Rennen in Valencia.»

Möglicherweise passiert bei einem WM-Titelgewinn Lüthis erneut das Undenkbare. Und ein Vertreter aus der in der Schweiz eher exotischen Motorradsportwelt düpiert den Weltstar bei der Wahl zum Schweizer des Jahres. Selbst wenn Lüthi diesmal in den Sympathien der Wähler kaum erneut Vorteile gegenüber dem längst zum Nationalheiligen aufgestiegenen Federer besitzt.

Man sollte Tom Lüthi nie abschreiben. Schon gar nicht im Jahr, in dem Angela Merkel wohl ihre vierte Amtszeit antritt, Apple das Jubiläumshandy iPhone X präsentiert – und sich Helene Fischer mit dem Song «Flieger» in der Schweizer Hitparade auf Rang 12 verirrte. Vielleicht fliegt Lüthi 12 Jahre später erneut in höheren Sphären als ein zweifacher Tennis-Grand-Slam-Gewinner.


Autor:in
Fabian Ruch, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 23.09.2017
Geändert: 23.09.2017
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