• Region

Münsingen - Leben im Schneckenhaus

Therese Lanzrein hatte einen Sohn, der an Autismus litt. Vor sechs Jahren starb er. Die passende Betreuung zu finden, sei immer eine Herausforderung gewesen.

a44138b71724e4516286ad743d2e93fe.jpg
a44138b71724e4516286ad743d2e93fe.jpg
Christoph Lanzrein: «Er liebte das Meer», sagt seine Mutter. (Foto: pd)

Eine Fahrt zu einem Heim im Seeland, auf der Autobahn. Therese Lanzrein sitzt am Steuer des Autos, ihr Sohn Christoph auf dem Beifahrersitz, er ist angespannt. Auf einmal tickt er aus. Er schlägt den Rückspiegel herunter, zerreisst ihr dann den Mantel. Schliesslich öffnet er die Autotür. «Ich wusste, dass ich jetzt ruhig bleiben muss, sonst wird alles nur noch schlimmer», erzählt Therese Lanzrein in ihrer Wohnung in Münsingen. Sie schaffte es, ihr Sohn beruhigte sich wieder. «An diesem Tag haben die Schutzengel Überstunden gemacht.»

Christoph Lanzrein litt an Autismus. Vor sechs Jahren starb er mit 48. Er hatte in sechs verschiedenen Heimen gelebt, war regelmässig in psychiatrischen Kliniken untergebracht, hatte immer mal wieder zu Hause bei seinen Eltern gewohnt.

Von Heim zu Heim

Lanzrein meldete sich auf der Redaktion, nachdem sie in dieser Zeitung (BZ, Anm. der BERN-OST-Redaktion) einen Artikel über die Stiftung Lebensart in Bärau gelesen hatte. Diese Institution bietet acht sogenannte KBS-Plätze für Menschen mit Autismus an, die viel Betreuung benötigen (siehe Kasten). «Gewalt gehört zum Alltag», lautete der Titel. «Ich war schockiert», sagt sie. Denn er erweckte bei ihr den Anschein, dass Autisten bösartige Menschen seien, die nur Schwierigkeiten bereiteten. Nach ihrer Erfahrung zeigen Autisten aber auch sehr liebenswerte, charmante Seiten.

Sie erinnerte sich an eigene Erlebnisse mit ihrem Sohn. Und sie kennt aus eigener Erfahrung, was im Artikel geschildert wird: dass Betroffene «von Institution zu Institution geschoben» werden, weil kein geeigneter Platz gefunden wird. Sie möchte Verständnis wecken und erzählt von ihrem Sohn.

Autisten als Zumutung

Christoph Lanzrein wurde in England geboren. Im Alter von fünf Monaten erlitt er eine Hirnhautentzündung. Möglicherweise habe sie die Autismusstörung verstärkt, sagt seine Mutter. Sie und ihr Mann mussten ihren Sohn im Alter von sechs Jahren erstmals in ein Heim in Gempen im Kanton Solothurn geben. Zusammen mit einer anderen betroffenen Familie halfen sie bei der Gründung des Heims mit.

Nach zehn Jahren geriet das Heim in eine schwere Krise, deshalb mussten sie ihren Sohn wieder nach Hause nehmen. «Wir stellten schockiert fest, dass er sich immer wieder erbrach», sagt sie. Wenn er das tue, müsse er sterben, dann habe man Ruhe vor ihm, habe er gesagt. «Autisten können nicht so sein, wie man es von ihnen erwartet, und das wissen sie auch.»

Es folgten weitere Aufenthalte in Heimen, und wenn es dort nicht lief, in psychiatrischen Kliniken. Dort würden Autisten dann nicht selten als Zumutung empfunden. «Und mit Medikamenten vollgepumpt.»

Engagement in Heimen

Therese Lanzrein kennt das Heimwesen nicht nur aus Sicht einer betroffenen Mutter. Nach ihrem Engagement in Gempen war sie später auch in der Raffaelstiftung in Konolfingen aktiv, die vor zehn Jahren in die Heimstätte Bärau überführt wurde. Sie war dort Mitglied des Stiftungsrats. Sie wisse, wie anspruchsvoll es sei, ein Heim für Menschen mit Autismus zu führen.

Vor vierzig Jahren half sie auch mit, in der Schweiz einen Elternverein zu gründen. Sie organisierte Tagungen für Betroffene. Und bis heute erhält sie viele Anrufe von Eltern. «Auch von ihnen weiss ich, wie schwierig und zermürbend es sein kann, das passende Angebot zu finden.»

Neulich wurde sie allerdings auf eine Institution aufmerksam, die ihr vorbildlich erscheint. Die Chasa Flurina im Graubünden, die von Ueli Hintermann geleitet wird. Sie ist überzeugt: Durch intensive Eins-zu-eins-Betreuung in Krisensituationen können Spannungen aufgefangen und Vertrauen aufgebaut werden. Damit würden die Betroffenen ruhiger und sicherer, und die Dosierung ihrer Medikamente könne in vielen Fällen allmählich verringert werden.

Keine Ausgrenzung

«Die Arbeit mit Autisten ist extrem anspruchsvoll und erfordert ein unglaublich hohes Mass an Einfühlungsvermögen, Beobachtungsgabe und Geduld», sagt Lanzrein. Ehrgeizige Ziele würden nur selten erreicht. «Hingegen kann ein Moment, in dem ein Autist mit grosser Freude reagiert, sehr beglücken.»

Sie seien sehr empfindsame Menschen. Nur könnten sie ihre Gefühle und Bedürfnisse oft nicht ausdrücken. Viele Betroffene können auch nicht sprechen – ihr Sohn aber schon. «Autisten leben wie in einem Schneckenhaus.» Dennoch hätten sie ein starkes Bedürfnis, in einer Gemeinschaft zu leben. Sie wollten dazugehören, sich aber auch zurückziehen können. «Sie auszugrenzen ist ungefähr das Schlimmste, was man tun kann.» Ihrem Sohn sei das oft passiert.

Der plötzliche Tod ihres Sohnes habe die Familie und das Umfeld erschüttert, sagt Therese Lanzrein und nimmt zum Schluss ein paar alte Fotos hervor. Sie zeigen ihren Sohn beim Malen, Tanzen, auf einem Schiff am Meer. «Das Meer hat er geliebt», sagt sie. «Er konnte schwimmen wie ein Delfin.»


KBS-PLÄTZE

«Hochsicherheitstrakt»

Die Mutter eines Autisten kritisiert in einem Buch Heime im Kanton Bern. Ihr Sohn lebt jetzt im Kanton Graubünden.

Eveline Bachmann aus Thun hat einen 20-jährigen Sohn, der an frühkindlichem Autismus leidet. Über die «schwierige Suche nach einem menschenwürdigen Platz» hat sie ein Buch geschrieben. Diesen Platz fand sie in der Chasa Flurina in Lavin. «Wir sind glücklich, dass er seit Ende Februar ohne Ruhigstellung durch Medikamente in einem offenen Haus in einer siebenköpfigen Wohngruppe leben darf», schreibt sie.

Den Kanton Bern hingegen kritisiert sie für seine KBS-Plätze. Diese Plätze stehen Personen mit geistiger Behinderung / Autismus sowie psychischen Beeinträchtigungen zur Verfügung, die eine besonders intensive Pflege nötig haben und oft eine Gefahr für sich oder andere darstellen. Ein Platz kostet pro Tag bis zu 800 Franken. Für Bachmann sind es Institutionen, die die Betroffenen «einsperren und mit Medikamenten ruhigstellen». Sie spricht von «menschenunwürdigen Hochsicherheitstrakten».

Eine Institution dürfe die Bewegungsfreiheit nur unter Bedingungen einschränken, so die kantonale Gesundheitsund Fürsorgedirektion. Andere Massnahmen müssten ausgeschöpft sein, um eine ernsthafte Gefahr für Personen oder um eine Störung des Gemeinschaftslebens ausschliessen zu können. Bei der Gestaltung und Einrichtung dürften die Klienten mitreden. Die hohen Kosten begründet der Kanton mit der intensiven und hoch professionellen Betreuung. Medikamente würden gemäss ärztlicher Verordnung verabreicht, zudem müssten die Heime die Medikation dokumentieren.

Eine KBS-Institution ist die Stiftung Lebensart, die im Erlenhaus Bärau 8 Plätze anbietet. «Bei uns leben Menschen, die jahrelang erfolglos einen Platz oder eine adäquate Anschlusslösung bei Wechseln gefunden haben», sagt Geschäftsleitungsmitglied Iolanda Aegerter. Es handle sich um ein Übergangswohnheim mit dem Ziel, dass die Bewohner später in eine Regelwohngruppe wechseln können. Das könnte auch eine Institution wie die Chasa Flurina sein. «Das Erlenhaus ist keine Endstation.» Das Gelände des Erlenhauses liegt zwischen einem Bahngleis und einem Bach und ist umzäunt. Das könne auf manche Menschen wie ein «Gefängnis» wirken, sagt Aegerter. «Wir sind aber überzeugt, dass der Zaun für die Bewohner mehr Freiheit bedeutet und zudem Schutz bietet.» Auf dem Gelände könnten sie sich frei bewegen. rei


Autor:in
Johannes Reichen, BZ
Nachricht an die Redaktion
Statistik

Erstellt: 19.01.2018
Geändert: 19.01.2018
Klicks heute:
Klicks total: