- Wirtschaft
Enggistein - Die letzte Filzfabrik steht nahe am Abgrund
Die einzige Filzfabrik der Schweiz steht am Eingang zum Emmental und nahe am Abgrund. Inhaber Niklaus Sägesser steckt seine ganze Energie ins Überleben auf diesem Nischenmarkt.
Nun will der Geschäftsführer aus dem Schatten treten. Seine Welt aus Schafwolle und Polyester zugänglicher machen. Logisch auch mit dem Hintergedanken, das Geschäft anzukurbeln. Denn wer durch die Räume der alten Filzfabrik schreitet, merkt rasch: Hier scheint kein Rappen übrig zu sein, um ihn in die Sanierung des Fabrikgebäudes zu stecken. «Wir kämpfen mit der Eurokrise», sagt der 49-Jährige.
Industriefilz für die Türkei
Es riecht muffig in den Räumen mit Filzboden. An den Wänden hängen Ölgemälde der Firmengründer, die Kantine ist mit Holzmobiliar aus den Fünfzigerjahren und einer bescheidenen Einbauküche ausgestattet. «Ich zeige die Kantine allen Kunden», sagt Sägesser. Als möchte er ihnen verdeutlichen, dass sich die Fissco nur knapp über Wasser halten kann.
In einem der beiden Maschinenräume ist es still. Die Maschinen zur Herstellung von Wollfilz hat Sägesser vor wenigen Monaten abgeschaltet, wie ausgestopfte Dinosaurier stehen sie in der Halle. Sägesser hat die Produktion von Wollfilz nach Deutschland ausgelagert. «Filzen ist sehr dampfintensiv. Pro Jahr verbrauchten wir 70 Tonnen Heizöl für die Produktion von 25 Tonnen Filz. Das geht an die finanzielle Substanz.» Die fertigen Wollfilzplatten werden im Nachbarland auf alten Fissco-Maschinen hergestellt und nach Enggistein geliefert, wo die Weiterverarbeitung stattfindet. «Wir schleifen, pressen und bohren den Wollfilz, die Produkte werden primär an die Maschinenindustrie in der Schweiz geliefert.» Ein Beispiel: Viele Eisenbahnräder haben einen Filzring integriert, damit Metall mit Öl geschmiert wird und nicht kaputtgeht.
Die Wollfilzprodukte für die Schweizer Industrie machen nur ein Drittel des Umsatzes aus. Zwei Drittel erwirtschaftet der Betrieb mit Polyesterfilz, auch Nadelfilz genannt, den die Firma selber herstellt. Der Polyesterfilz wird nach Europa, primär in die türkische Stahlindustrie, exportiert, wo er unter anderem für die Reinigung von Metalloberflächen eingesetzt wird.
Dämmstoff und Dünger
Die Auslagerung der Wollfilzproduktion war nicht Sägessers einziger Schritt, um die 170−jährige Filzfabrik vor dem Untergang zu retten. Als er 2010 die Firma mit allen Mitarbeitenden übernahm, lief der Verkauf sehr schlecht, 28 «topmotivierte» Leute drohten ihren Job zu verlieren. Sägesser, zudem Gemeinderat in Schüpfen, und sein Team krempelten den Betrieb um. 23 Stellen blieben erhalten.
Heute gehen jährlich gut 300 Tonnen Filz aus Enggistein in die Welt. So viel, wie seit zehn Jahren nicht mehr. Würde dem Betrieb die Eurokrise nicht so zu schaffen machen, die «Filzi» würde gesund dastehen. Sägesser: «Wir geben uns drei bis fünf Jahre Zeit, das Unternehmen auf einen grünen Zweig zu bringen.» Der Inhaber scheut sich dabei kaum vor Experimenten.
Zu seinen neusten Würfen gehören Dämm- und Isolierstoffe aus Schweizer Schafwolle: Tonnenweise Wolle verkaufen ihm Bauern aus der Umgebung, in der Fissco wird sie aufbereitet. Sägesser will nun Bauherren und die Gemeinden angehen und die Wolle unter die Leute bringen. Die Erschliessung einer weiteren Nische erhofft er sich mit Schafwolldünger. «Eine Studentin hat ihre Diplomarbeit über diesen Dünger verfasst, das scheint zu funktionieren.» Für beide Projekte, Dünger und Dämmstoff, sucht Sägesser Investoren.
Filz für die Katz
Bei Niklaus Sägesser zu Hause gibt es überall Filz: nicht in Form von Finken oder Hüten, «Bastelfilz wird importiert», sondern Fissco-Filz für den praktischen Zweck. Als Stuhlgleiter zum Beispiel. Oder als Bett für die Katze, die sich liebend gern auf dem Filz zusammenrollt, wie Sägesser erzählt.
Sowieso erzählt der Firmeninhaber viel. Es gibt aber auch Themen, über die Sägesser nicht sprechen mag. Über Kennzahlen zum Beispiel. Auch der wahre Grund, wieso ein erfolgreicher Geschäftsmann seine leitende Funktion in der Pharmaindustrie für einen serbelnden Nischenmarkt aufgibt, bleibt irgendwie im Verborgenen. Die Filzbranche ist eine verschwiegene Branche.
Erstellt:
19.06.2012
Geändert: 19.06.2012
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