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Filzi Enggistein: Kann man es ausarten lassen?

Quelle
Der Bund

Das Kollektiv Effective nutzt das alte Gebäude der Filzi Enggistein als chaotischen Kunstraum. Den rechtsbürgerlichen Fabrikbesitzer freuts.

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Das Künstlerkollektiv im Vordergrund (v.l.n.r.): Martina Meister, Auyoù Uana und Roman Trachsel. (Bild: Valérie Chételat)

Wir stehen im Fabrikarchiv. Aktenordner der letzten Jahrzehnte verstauben da in den Gestellen. Es ist so kalt, dass Eisblumen an den kleinen Fensterscheiben gewachsen sind und Dunst austritt, wenn man spricht. «Als wir das erste Mal hierher kamen, sah das Gebäude aus, als wäre es einst vom einen auf den anderen Tag verlassen worden», sagt Martina Maurer.

Sie ist freischaffende Künstlerin und Teil des dreiköpfigen Kollektivs Effective, welches das alte Fabrikgebäude der Filzi Enggistein seit zwei Wochen nutzt. Der Fabrikbetrieb befindet sich heute gleich hinter dem alten Gebäude.

Hemmungsloses Arbeiten

«Wir wollen die verlassenen Räume zum Leben erwecken», sagt Martina Maurer. «Und zwar mit dem, was vorhanden ist, mit den Unmengen an Filzresten, an Möbeln, an Gegenständen, die wir da vorgefunden haben. Die Fabrik ist unser Kapital.» Sie zeigt auf einen Stapel Pornohefte und lacht: «Man findet hier fast alles.»

Mitte Februar wird ein mehrtägiges Festival veranstaltet, an dem das Entstandene der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. «Es könnte aber sein, dass das Projekt einfach ausartet», sagt Martina Maurer. «Weil wir alles laufen lassen, alles geschehen lassen wollen.» Das Kollektiv wolle sich lösen von den Ansprüchen, die ihnen der Kunstbetrieb und sie sich selbst auferlegten. Alle sollten «hemmungslos» arbeiten können.

Darum haben die Initianten alle ihre Bekannten dazu aufgerufen, die Räume mit zu gestalten. Bis jetzt haben sich über zwanzig Leute einen Raum gesichert, den sie bespielen wollen. Seither wandelt sich die alte Fabrik in Eiseskälte von Tag zu Tag. «Ich vertraue ihnen blind»

Gleich hinter der chaotischen Kunsthalle sitzt im warmen Büro der Fabrikbesitzer Niklaus Sägesser. Er kaufte die Filzi vor fünf Jahren, als sie kurz vor dem Konkurs stand. Jetzt beschäftigt er über 20 Mitarbeiter. Laut Sägesser soll das alte Gebäude dereinst umgebaut und vermietet werden.

Bis dahin könne darin geschehen, was wolle. «Ich bin rechtsbürgerlich eingestellt. Daran ändert dieses Projekt nichts.» Er habe aber selbst zwei Töchter in den Zwanzigern. «Und die können zwischen allem Papierkram ja beinahe nicht mehr atmen.»

Es brauche unbedingt mehr Freiräume, damit die junge Generation der Reglementierung entfliehen könne. «Als mich diese jungen Leute um eine Zwischennutzung anfragten, war das in dem Sinne eine gute Chance. Nicht für mich, sicher aber für sie.»

Sägesser sitzt entspannt in seinem Bürostuhl. Im alten Fabrikgebäude sei zum Teil noch teures Material gelagert, sagt er. Die Fabrik könnte abbrennen, wenn ein Funken spränge. Es könnten allerhand Unfälle geschehen. «Gruppendynamiken sind unberechenbar.»

Und als ob die vom Projekt knisternde Luft Gedanken übertragen würde, sagt auch er es: «Es könnte alles ausarten.» Doch habe er den Künstlern in die Augen geschaut, ihnen gesagt, was «ganz» gelassen werden müsse und jetzt vertraue er ihnen blind. «Ich habe nicht vor, auch nur ein einziges Mal nachzuschauen, was da oben abläuft.»

Kontrolle ist wohl nötig

Da oben in der Haupthalle steht eine Bar aus Holz. Ab und zu kommt einer oder eine der rund zehn Anwesenden und holt sich ein Bier oder dreht sich eine Zigarette. Gegenüber ist eine Bühne aus Möbeln und Büchern gebaut worden. Ansonsten herrscht in der Halle ein grosses Durcheinander. Filzfetzen, Papier, Holzspäne, Stanzformen liegen in rauen Mengen herum.

Die Nebenhalle wurde zum Proberaum für Akrobatik umfunktioniert. Jemand jongliert zu elektronischer Musik. In den alten Büros im Obergeschoss stehen noch immer die verlassenen Schreibtische und ein paar alte Computer. Auf den Tischen werden mit Filzstempeln die Festivalplakate gedruckt, Fotos von Filzverschnitten geschossen, die Wände mit Filzmustern tapeziert, Kunstinstallationen gebaut.

«Trotz allem, das super läuft, macht mir das Festival noch etwas Sorgen», sagt Martina Maurer. Das Künstlerkollektiv wolle am Ende ja hinter dem stehen können, was da gezeigt werde. «Wenn wir aber nichts kontrollieren, werden die dümmsten Ideen ebenso umgesetzt wie die besten. Ganz ohne zu kuratieren wird es wahrscheinlich nicht funktionieren. Also fragen wir uns ständig: Wie viel Kontrolle braucht es?»

[i] Mehr Infos über das Projekt, den Standort und das Festival unter der Webseite www.filzfabrik.rocks


Autor:in
Flurin Jecker, Der Bund
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Erstellt: 25.01.2016
Geändert: 25.01.2016
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