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Behindertensession: «Es war ein erstaunliches Gefühl»

Am letzten Freitag fand die erste Behindertensession der Schweiz statt. Eingenommen wurden 22 Prozent der Parlamentssitze - drei davon von Menschen aus der Region BERN-OST. Wir haben nach der Session mit ihnen gesprochen.

Parlamentarierin Marianne Plüss im Nationalratssaal. (Bild: zvg)
Olivier Marti in der Wandelhalle des Bundeshauses. (Bild: zvg)
Jennifer Pauli an ihrem Platz im Nationalratssaal. (Bild: zvg)

22 Prozent - so gross ist der Anteil an Menschen mit Behinderung in der Schweizer Bevölkerung. Bei 200 Nationalratssitzen sind das 44 Sitze. Auf dreien davon sassen am letzten Freitag Menschen aus der Region.

 

Marianne Plüss aus Konolfingen, die eine Sehbehinderung hat, Jennifer Pauli aus Worb, die mit dem seltenen Gendefekt Epidermolysis Bullosa ("Schmetterlingskinder") geboren wurde und Olivier Marti, der mit dem Asperger Syndrom lebt. Sie alle hat BERN-OST gefragt, was sie von der Session mitgenommen haben und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

 

BERN-OST: Wie haben sie die Session erlebt? Was war es für ein Gefühl, im Bundeshaus Politik zu machen?

Jennifer Pauli: Es war sehr eindrucksvoll, da zu sein, wo wichtige
Entscheide getroffen werden. Man kam sich wichtig vor und wurde auch als wichtig behandelt und wertgeschätzt.

Marianne Plüss: Es war ein sehr spezielles Gefühl und eine Ehre auch. Es war ja auch nicht selbstverständlich, dass man gewählt wurde. Es hatten sich 200 Personen gemeldet und 44 wurden gewählt. Das Gefühl, 1,8 Millionen Menschen zu vertreten war eine grosse Sache und auch ein gewisser Druck. Natürlich war ich auch nervös. So etwas erlebt man nicht jeden Tag.

Olivier Marti: Es war ein erstaunliches Gefühl. Surreal und abstrakt. Ich fühlte mich klein in den grossen Räumen und gleichzeitig auch gross. Da war das Gefühl "hier passiert etwas Grosses und ich bin Teil davon". Dankbarkeit auch, für die offene Tür. Und aber auch Ehrfurcht und eine gewisse Angst, etwas falsch zu machen oder negativ aufzufallen.

 

Was ist aus Ihrer Sicht das wichtigste Ergebnis der Behindertensession?

Marianne Plüss: Für mich persönlich wichtig waren die Anträge zu e-Voting. Blinde müssen sich heute helfen lassen beim Ausfüllen von Abstimmungsunterlagen, womit etwa auch das Stimmgeheimnis nicht gewahrt ist. Auch Informationen in leichter Sprache wären wichtig. Ich bin überzeugt, dass das auch vielen Nichtbehinderten helfen würde, sich politisch zurechtzufinden. Dann sind mir ganz viele starke und eindrucksvolle Voten in Erinnerung geblieben.

Olivier Marti: Dass sie geschehen ist und dass Leute es gesehen haben, auch Politiker:innen aus dem National- und Ständerat haben mitgemacht. Und dann natürlich die konkrete Resolution, die am Schluss verabschiedet wurde. 

Jennifer Pauli: Dass zum Schluss diese wichtige Resolution, spezifisch
zur politischen Teilnahme verabschiedet wurde. Aber auch die vielen
Redebeiträge, man hat so viel mitbekommen zu verschiedenen Themen und Bereichen aus dem Leben mit einer Behinderung.

 

Gibt es auch Enttäuschungen?

Olivier Marti: Ich war durchaus zufrieden. Aber ich frage mich, ob es eine gute Idee war, es die "Behindertensession" zu nennen und nicht vielleicht von Menschen mit Beeinträchtigungen oder von Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu sprechen. "Behindert" hat etwas Herabwürdigendes. Ich fand es auch interessant, dass niemand irgendetwas gesagt hat zu dem Begriff.

Jennifer Pauli: An der Session selber nicht. Im Vorfeld war ich zuerst
etwas überrascht, dass die Resolution nur auf die politische Teilhabe
fokussiert. Aber ich denke nun, dass das gar nicht schlecht ist. Weil,
wenn mehr Menschen mit Behinderungen in den Räten vertreten wären, kämen ja die anderen Anliegen auch mehr zur Sprache.

Marianne Plüss: Etwas, das unter uns immer wieder Thema war ist, dass die ganze Session von einer Behindertenorganisation bezahlt und organisiert wurde, zum Beispiel die Gebärdendolmetscher:innen. Ich finde, der Bund hätte sich daran stärker beteiligen können.

 

Wie geht es weiter? Werden Sie sich nun weiter politisch engagieren?

Jennifer Pauli: Es sind weitere Sessionen angedacht und es ist
wünschenswert, dass das Ganze weitergeht. Persönlich fühle ich mich
darin bestärkt, dass meine Stimme wichtig und auch erwünscht ist! Ich
würde mich gerne Schritt für Schritt mehr einbringen. Wichtig ist auch,
dass die Gesellschaft uns gesehen hat und wahrgenommen hat, dass wir
mitreden können und wollen. Menschen mit Behinderungen werden nämlich noch oft unterschätzt.

Marianne Püss: Ich bin schon in der Ortsgruppe der GLP Konolfingen. Und jetzt bin ich schon grad noch etwas im Flow. Nicht, dass ich jetzt gleich etwas anreisse, aber es hat schon "gfägt", Bundeshausluft zu schnuppern. Mein Ziel wäre, dass das nicht die letzte Behindertensession bleibt und das Thema der politischen Teilhabe nicht versandet.

Olivier Marti: Ich plane, mich an einem Netzwerk zu beteiligen von Menschen mit Beeinträchtigungen, das sich regelmässig treffen wird per Zoom oder auch offline. Mein Ziel ist, mich dort zu beteiligen. Ich denke auch darüber nach, einer Partei beizutreten, vielleicht der EVP. Aber das ist noch nicht konkret.

 

Haben Sie sonst noch etwas, das Sie zur Session sagen möchten?

Olivier Marti: Ich habe schon viele schlechte Witze gehört über Politiker:innen. Viele haben eine schlechte Meinung. Aber ich habe die Personen, mit denen ich im Raum war sehr positiv erlebt und als offen eingeschätzt.


Autor:in
Anina Bundi, anina.bundi@bern-ost.ch
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Erstellt: 29.03.2023
Geändert: 29.03.2023
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