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Das Erbe der von Mays erwacht

Quelle
Der Bund

Musikalisch hatten im 18. Jahrhundert die Berner Patrizier die Nase vorn. Sie sorgten für Konzerte im Schloss Hünigen bei Konolfingen und sammelten Musik. Les Passions de l’Ame bringt die exquisite Sammlung zum Klingen.

Wie auf dieser zeitgenössischen Zeichnung von Daniel Chodowiecki gehörte Hausmusik bereits im 18. Jahrhundert auf noblen Landsitzen zum guten Ton – lange bevor in der Stadt das Konzertleben aufblühte. (Bild: zvg)
Einst Konzerte, heute Bankette: Der Von-May-Saal im Schloss Hünigen. (Bild: zvg)

Im Schlosspark fühlt sich an diesem Nachmittag der Herbst wie Hochsommer an. Die Zeit hier am Eingang zum Emmental ist stehen geblieben. Anregend ist es, durch das Licht- und Schattenspiel zu flanieren, zu den Baumriesen hochzuschauen, die ihre Kronen wie Köpfe zusammenstrecken, und der «Chise», dem Bächlein zu lauschen, das zu ihren Wurzelfüssen vor sich hinmurmelt.

 

So muss es schon geklungen haben, als drüben im Schloss noch die von Mays residierten und hinter den Fenstern im Obergeschoss die Musik spielte, wenn die Nacht den Schlosspark ins Dunkel hüllte. Klassische Konzerte gab es auf dem Lande schon, bevor im 19. Jahrhundert in der Stadt das Konzertleben aufzublühen begann. Lange bevor 1858 die Bernische Musikgesellschaft das Konservatorium gründete und 1877 das Symphonieorchester aus der Taufe gehoben wurde, pflegte man auf Schloss Hünigen die Hausmusik.

 

Instrumentaler Notenschatz

Die gesellschaftlichen Anlässe, welche Berns Patrizierfamilien in ihren Schlössern und Landsitzen organisierten, waren zahlreich, ebenso die musikalischen Darbietungen zu den Banketten. Welche Musik genau auf Schloss Hünigen gespielt wurde, ist in Vergessenheit geraten – bis jetzt. Per Zufall ist der Musikwissenschaftler Christoph Riedo im Archiv der Burgerbibliothek nämlich auf eine Musikaliensammlung gestossen, die einst den von Mays gehörte. Denn die musikliebhabenden Schlossherren haben auch Noten gesammelt.

 

Die Patrizierfamilie von May hat eine hauseigene Bibliothek, in der Werke von Joseph Haydn und Christoph Willibald Gluck zu finden sind, aber auch unbekanntere Stücke von Anton Filtz, Giuseppe Tartini oder Georg Christoph Wagenseil. Barockes und Frühklassisches, wie man es kannte und kennt. Nichts Extravagantes also. «Der Bestand war katalogisiert und somit nicht unbekannt», sagt Riedo. Vermutlich sei er nun aber der erste, der den Emmentaler Notenschatz einer eingehenden Prüfung unterzogen habe.

 

Zwei Besonderheiten sind ihm bei der Durchsicht der 56 Handschriften aufgefallen: «Bis auf eine Ausnahme enthält der Nachlass nur Instrumentalmusik. Und Musikdrucke fehlen.» Riedo vermutet, dass diese veräussert worden sind, bevor die Sammlung 1922 in die Burgerbibliothek gekommen ist; damals nämlich wurde Schloss Hünigen verkauft. Heute ist das Anwesen mit seinem grossen Rosengarten und der öffentlich zugänglichen Parkanlage ein 4-Sterne-Haus mit modernem Wellness-Fitness-Trakt.

 

International vernetzt

Erstaunlich ist, dass hier im ländlichen Konolfingen damals aktuell die Musik gespielt und gesammelt wurde, die man zu jener Zeit international aufführte. Offenbar habe man sich die Noten als Drucke in den europäischen Musikmetropolen beschafft, vermutet Riedo. Oder man habe sich Abschriften von Werken anfertigen lassen, welche die befreundete Aristokratenfamilien bereits in ihren Bibliotheken hatten.

 

Dass die von Mays international vernetzt sein mussten, könnte einem aufmerksamen Spaziergänger auch im Park auffallen. Da sind nicht nur ihre Wappen erhalten, da gibt es auch eine Blume, deren Spur bis ins 16. Jahrhundert zurückführt. Diese Königin blüht nur einmal im Jahr während der Nacht und soll von einem Mitglied der Familie von May aus Übersee mitgebracht worden sein. Gabriel von May (1791–1870), der in Brasilien Ländereien besass und Kaffee und Tabak anpflanzen liess, hat den Park angelegt. Laut Schlosschronik erwarb die Familie von May das Schloss Hünigen 1588, urkundlich ist es aber bereits im 12. Jahrhundert als Villa Hünigen bescheinigt.

 

Die Vergangenheit ist noch spürbar. Im Obergeschoss des Schlosses sind eine Ahnengalerie der von Mays, die Bibliothek und der festliche Von-May-Saal erhalten, wo einst die Konzerte stattgefunden haben. Bilder oder Malereien dieser Hauskonzerte gibt es leider keine. Mehr über die Familie von May erfährt man aus Chronikenund Büchern. Die von Mays sollen sich durch Kreativität und einen offenen Geist ausgezeichnet haben. Gustav von May, Schlossherr von Hünigen und Gemeindepräsident von Stalden, beteiligte sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert am Bau der ersten elektrischen Eisenbahn Europas, der Burgdorf-Thun-Bahn. Die Station Stalden beim Schlossverweist aber auch auf eine weitere spannende Geschichte, die hier ihren Anfang nahm. Die Geburt der Stalden-Creme. Und auch die hat mit den von Mays zu tun.

 

1892 erwirbt César Ritz, einer der grossen Hotelpioniere unter Beteiligung seines Chefkochs Auguste Escoffier (dessen «Guide culinaire» als eine Bibel der französischen Kochliteratur gilt) von der Familie von May ein Stück Land und gründet die Berner Alpen Milchgesellschaft. In dieser Fabrik, die hier «Siedi» heisst (abgeleitet von «sieden»), wird Ende des 18. Jahrhunderts die erste ungezuckerte Kondens- und Pulvermilch produziert. Ihr Export macht Stalden in der ganzen Welt bekannt.

 

Im exklusiven Kreis

Die Emmentaler von Mays waren ursprünglich aber keine «Hiesigen». Die Familie, die durch Handel reich geworden war, kam aus Italien nach Bern. Hier stieg sie in den exklusiven Kreis jener Berner Geschlechter auf, die Macht und Pfründen unter sich aufteilten. Zudem haben sich die von Mays mit den Patrizierfamilien von Steiger, von Wattenwyl und von Tavel verschwägert. So kommt es, dass der Berner Mundartdichter Rudolf von Tavel ab und zu bei seiner Tante auf Schloss Hünigen geweilt und hier zwei seiner vierzehn Romane geschrieben hat.

 

Das klingende Erbe der von Mays soll nun neu erwachen. Christoph Riedo hat Meret Lüthi von seiner Entdeckung in der Burgerbibliothek erzählt. Die Leiterin des Barockensembles Les Passions de l’Ame reagierte begeistert. Für das Programm mit dem Titel «Ex Archivo» liess sie Transkriptionen anfertigen, einige Werke aber werden aus den originalen Handschriften aus dem Nachlass von Schloss Hünigen erklingen.

 

Bibliothek Münstergasse Bern (Schultheissensaal), Sa, 20. Oktober, 19.30 Uhr, So, 21. Oktober, 17 Uhr.


Autor:in
Marianne Mühlemann, Der Bund
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Erstellt: 19.10.2018
Geändert: 19.10.2018
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