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Der Revolutionär vom Hüenerbüel: Gerhart Wagner ist 100

Vom Elternhaus in Bolligen aus sah Gerhart Wagner schon als Kind auf den Hüenerbüel – jenen Hügel, der ihn nach seiner akademischen Karriere im Ruhestand zu einer revolutionären Theorie über die Eiszeit bringen sollte. Am Dienstag wurde der Zoologe, Botaniker, Physiker und Geologe 100-jährig. Und noch immer erklimmt er fast wöchentlich den Bantiger-Turm.

Es zieht ihn immer wieder zum Bantiger: Gerhard Wagner in seiner Lieblingsbeiz, dem Restaurant Alpenblick Ferenberg, am Fusse des Bolliger Hausbergs. (Bild: Isabelle Berger)

Wenn die Wetterprognose für den nächsten Tag stimmt, stellt Gerhart Wagner den Wecker früh. „Ich weiss für jeden Tag genau, wann die Sonne aufgeht und versuche immer pünktlich zum Sonnenaufgang auf dem Turm zu sein“, erzählt er am Tisch im Restaurant Alpenblick Ferenberg unterhalb des Bantigers. Für seine Ausflüge nimmt er sich genug Zeit. In seinem „ganz langsamen Tempo“ steige er die Treppenstufen auf den Turm hoch, auch um Stürze zu vermeiden. „Rund fünfzig Mal im Jahr mache ich das“, sagt er. Er notiert seine Bantiger-Besteigungen jeweils mit Datum. Manchmal komme es auch zu ganz besonderen Erlebnissen. „Zum Beispiel habe ich an meinem Geburtstag die erste Singdrossel des Jahres gehört“, berichtet er erfreut.

 

Die Vogelkunde stand ganz am Anfang seiner akademischen Laufbahn. 1949 doktorierte er in Zoologie, später wurde er Lehrer für Biologie und Geologie am Gymnasium Bern-Kirchenfeld, Chef der Sektion für Strahlenschutz beim Eidgenössischen Gesundheitsamt und Assistenzprofessor für Zoologie an der Universität Zürich. Bis zu seiner Pensionierung 1983 war er Rektor des Realgymnasiums Bern-Neufeld. In den folgenden Jahren erarbeitete er gemeinsam mit Konrad Lauber drei Bücher, darunter die über 1600-seitige „Flora Helvetica“, das Standard-Nachschlagewerk zu den Pflanzen der Schweiz.

 

Vom „komischen runden Hoger“ zur neuen Theorie

Doch zurück zu Wagners Ursprüngen: „Ich fand den runden ‚Hoger’ schon immer komisch“, sagt er über den Hüenerbüel. Dann erzählte ihm ein Fachgeologe, in der Gegend um Bolligen seien früher der Rhone- und der Aaregletscher aufeinandergestossen. Er überlegte sich dies genauer und kam zum Schluss: „Das muss da gewesen sein, wo der Hüenerbüel ist.“ Dies führte ihn zur Entwicklung des Mittelmoränenmodells. 2014 veröffentlichte er dazu sein Buch „Mittelmoränen. Heute und in der Eiszeit“.

 

„Die bisherige Ansicht war, dass Hügel dadurch geformt wurden, dass die eiszeitlichen Gletscher den Moränenschutt hauptsächlich am Grund transportierten – das ist das Grundmoränenmodell“, erklärt Wagner. Er ist überzeugt, dass es anders ist: „Auf der Oberfläche der Gletscher lag aber viel mehr Gesteinsschutt, als bislang angenommen. Dieser lagerte sich nach Abschmelzen der Gletscher ab und bildete so Hügel“, sagt er.

 

Der Durchbruch lässt auf sich warten

Obwohl seine Entdeckung im Fall des Hüenerbüels von der Wissenschaft vollumfänglich akzeptiert wurde, hat sein Modell den Durchbruch noch nicht geschafft. Nach der Entdeckung des Hüenerbüels suchte Wagner nach weiteren so entstandenen Hügeln und fand überall in der Schweiz zahlreiche solche. „Das wurde der Fachwelt zu viel des Guten und ich wurde dafür angefeindet“, sagt er. Doch die Theorie werde mittlerweile wieder diskutiert. „Die Berner Professoren sagen mir, ich solle einfach warten. Ich warte noch jetzt auf den Durchbruch und werde ihn vielleicht sogar noch erleben“, sagt er.

 

Daran zu klammern scheint er sich aber nicht. Auf die Frage, wie es sich anfühle 100 Jahre alt zu sein, antwortet er mit einem Schmunzeln: „Ich freue mich darauf, wenn mein Lieblingskommando aus dem Militär kommt. Wissen Sie welches das ist? ‚Abtreten’." Er hoffe, dass sein ‚Abtreten’ gnädig verlaufe. „Aber iz isch de öpe gnue“, sagt er.

 

Geburtstagsfest in luftiger Höhe

Er empfinde aber viel Glückseligkeit und Dankbarkeit, wenn er auf sein Leben zurückschaue. „Dankbar bin ich vor allem meiner zweiten Frau Maria Kaufmann“, betont er. Sie mache zuhause freiwillig alles für ihn, und das, obwohl sie mit 87 auch nicht mehr ganz jung sei. Seit vierzig Jahren sind die beiden zusammen. „Sie hat aus ihrer ersten Ehe zwei Töchter und zwei Enkelinnen, die mich genau so gern mögen, wie ich sie“, sagt Wagner, der selber zwei Söhne, zwei Töchter, zehn Enkel und sechs Urenkel hat.

 

Mit seiner grossen Familie feiert Wagner am Samstag seinen hohen Geburtstag nochmals gebührlich – und zwar in der Glaskanzel auf dem Bantiger-Turm.


Autor:in
Isabelle Berger, isabelle.berger@bern-ost.ch
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Erstellt: 22.02.2020
Geändert: 22.02.2020
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