Emmentaler Filmtage - Filmperlen aus 21 Ländern

Erstmals starteten die Emmentaler Filmtage bereits am Freitagabend. Gezeigt wurden achtzig Kurzfilme. Das breite Angebote lockte mehr Menschen an.

Gabriel Anwander, Wochen-Zeitung
Ist Ihnen das auch schon passiert? Sie sind auf dem Weg zum Einkaufen, zum Friseur, oder auf die Post, da begegnet Ihnen eine Bekannte. Sie sagt zu Ihnen: «Hast du einen Augenblick Zeit, ich muss dir ganz dringend was erzählen.» Und weil Sie wenig Zeit haben, erzählt sie Ihnen eine unerhörte Geschichte, eine lustige Episode, oder eine traurige Begebenheit, hübsch verdichtet, ohne jede Ausschweifung und trotzdem sehr anschaulich. Sie hören ihrer Bekannten zu und getrauen sich immer weniger, ihr ins Wort zu fallen, oder auch nur eine einzige Zwischenfrage zu stellen. Am Ende wühlt die Geschichte Sie mächtig auf, bringt Sie ordentlich zum Lachen, oder berührt Sie im Innersten, so dass Sie den Tränen nahe sind. Für einen Moment vergessen Sie alle Sorgen und die Welt um sich herum. Genau dies vermag ein guter Kurzfilm zu leisten.

Im Internet finden sich jede Menge Kurzfilme, die wenigsten sind der Rede wert. Am letzten Wochenende auf dem Rüttihubelbad wurden an den Emmentaler Filmtagen achtzig – ausschliesslich gute – Kurzfilme gezeigt.

 

Ein sehenswertes Programm
 
Filmschaffende aus 21 Ländern sandten 2600 Filme ein, der kürzeste dauerte zwei, der längste neunundfünfzig Minuten. Die Organisatoren schauten sich während Monaten jede einzelne Aufnahme an, wählten gemeinsam die besten aus und stellten ein Programm zusammen, das sich sehen lassen konnte. Da gab es Filme über das Sterben zu sehen, wie zum Beispiel „L’Orchidée“: Ferdinand, ein alter Mann ist sterbensmüde und landet betrübt im Altersheim in einem Zweierzimmer. Der andere Mann im Zimmer heisst Angelo, sein Bett steht neben dem Fenster. Angelo erklärt dem Neuling Ferdinand: «Ich kann in den Park hinunter sehen.» Er beschreibt, wie ein junges Paar flirtet, er behauptet weiter, er sehe Kinder Fussball spielen, und er schildert verschmitzt und glaubhaft, wie sich das Team der Jungen gegen das Team der Mädchen blamiert und verliert. Ferdinand lacht ins Kissen und findet Trost durch Angelos Geschichten, und er beginnt sein Schicksal zu akzeptieren, die letzte Station in seinem Leben. Dann stirbt Angelo, jetzt darf Ferdinand ans Fenster. Was sieht er da? Nichts von einem Park, statt dessen eine hohe Mauer. Die beiden Schauspieler, Angelo beim Beschreiben des vermeintlichen Parks, Ferdinands Gesicht beim Entdecken der Mauer, und seine versöhnliche Handlung am Ende machen den Film zu einer Perle.

Es gab Dokumentarfilme aus dem Emmental zu sehen, bedrückende Filme über Krieg und Frieden, schräge Filme über Beziehungskisten, über Eltern, Behinderte, es gab Filme für Kinder und über starke Frauen, wie zum Beispiel «A Lesson»: Ein reicher Hausherr erteilt seinem Kindermädchen bei der Entlassung eine Lektion gegen Unterwürfigkeit. Sein Verhalten ist dabei über alle Massen arrogant und selbstgerecht, doch sie lernt schnell und stellt ihn ganz zum Schluss vor seiner eigenen Frau bloss, und zwar so gekonnt und drastisch und entschieden und effektvoll, dass er für sein Leben geheilt sein dürfte.
 

Die Kurzfilme im Internet können zum grössten Teil gratis heruntergeladen werden. Der Eintritt in die Emmentaler Filmtage war ebenfalls gratis. Das lässt den Eindruck entstehen, Kurzfilme würden nichts kosten, Filmemacher würden Kurzfilme nebenher produzieren, aus Liebe zum Metier, aus Freude am Filmschaffen. Das ist falsch. Jeder Film kostet Geld. Und gerade diese hochwertigen Kurzfilme, wie sie auf dem Rüttihubelbad gezeigt wurden, sind die einzigen wirklich unabhängigen Filme. Die Filmschaffenden müssen sich für ihr Projekt oftmals Geld borgen und daneben Sponsoren finden, die bereit sind, Geld für etwas auszugeben, das sich nie lohnt. Die Schauspieler, Kameraleute, Tontechniker, Grafiker, die ganze Equipe will bezahlt sein.

  

Wer mal da war, kommt wieder
 
Michèle Zweifel und Michael Hauser von der Organisation der Emmentaler Filmtage begründeten gegenüber der «Wochen-Zeitung», dass sie sich durch den Gratis­eintritt viel Aufwand und Kosten sparen konnten. ­Dagegen versuchten sie den Besucherinnen und Besuchern verständlich zu machen, dass auch Kurzfilme eine Leihgebühr verdienten. Wer etwas zu sehen bekam, das ihm gefiel, solle sich erkenntlich zeigen und einen Beitrag in die Kollekte legen. Das Geld, das so zusammen kam, wurde unter die achtzig Filmschaffenden verteilt. Hauser hob hervor, dass andere Organisationen sich ihre Aufwände meistens durch die Filmschaffenden finanzieren liessen. Das heisst, wer dort einen Film einreichen will, muss zuerst eine Gebühr entrichten; ohne diesen Zustupf, würde der Kurzfilm nicht entgegengenommen, egal, ob er am Festival gezeigt wird oder nicht. Zweifel und Hauser stehen mit ihrer unkomplizierten und respektvollen Haltung ziemlich allein da in der Festival-Landschaft der Kurzfilme. Dafür kassieren die beiden regelmässig ernstgemeinte und motivierende Komplimente aus der Filmbranche. Ein Regisseur aus Berlin sagte, das Rüttihubelbad sei nicht nur ein ausnehmend schöner Ort, die Organisation sei auch die professionellste, die er bisher getroffen habe.
 
Die Zuschauerzahlen geben ihnen ebenfalls Recht: Im vierten Jahr kamen doppelt so viele Leute ins Rüttihubelbad, als im ersten Jahr. Und nicht zuletzt zeigten sich viele Zuschauerinnen und Zuschauer begeistert. Eine Dame sagte: «Ich bin das vierte Mal hier. Ich finde es einfach toll und ich werde wiederkommen, keine Frage!»

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Gabriel Anwander, Wochen-Zeitung
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Erstellt: 24.10.2013
Geändert: 24.10.2013
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