- Kultur
Friedrich Dürrenmatt: «Vielleicht ist die Zeit so auf den Hund gekommen ...»
Friedrich Dürrenmatt starb vor zwanzig Jahren. Der Band «Sein Leben in Bildern», der mit Texten aus dem Nachlass und unveröffentlichten Fotos aus dem Archiv reich bestückt ist, erscheint erst im Frühjahr 2011 im Diogenes-Verlag. Schon heute aber veröffentlicht die SonntagsZeitung Fotos und ein Faksimile daraus.
Sein Todestag jährt sich am 14. Dezember zum zwanzigsten Mal, am 5. Januar 2011 würde Friedrich Dürrenmatt neunzig Jahre alt. Grund genug, den grossen Schweizer Dichter zu feiern.
Doch während neue Biografien seines Zeitgenossen Max Frisch (der am 4. April 2011 ebenfalls den zwanzigsten Todestag hat und am 15. Mai den hundertsten Geburtstag hätte) schon jetzt erscheinen, lässt sich der Dramatiker und Zeichner Dürrenmatt mehr Zeit. Der Band «Sein Leben in Bildern», der mit Texten aus dem Nachlass und unveröffentlichten Fotos aus dem Archiv reich bestückt ist, erscheint erst im Frühjahr 2011 im Diogenes-Verlag.
Schon heute aber veröffentlicht die SonntagsZeitung Fotos und ein Faksimile daraus. Im folgenden Text, der in seiner handschriftlichen Form rechts oben abgedruckt ist, schildert Dürrenmatt seine Herkunft und wie alles begann. Mit der für ihn typischen Ironie und mit scharfem Auge für die Widersprüche seiner Zeit – und in einer ordentlichen Handschrift.
«Ich wurde am 5. Januar 1921 in Konolfingen (Kanton Bern) geboren. Mein Vater war Pfarrer, mein Grossvater väterlicherseits Politiker und Dichter im grossen Dorfe Herzogenbuchsee. Er verfasste für jede Nummer seiner Zeitung ein Titelgedicht. Für ein solches Gedicht durfte er zehn Tage im Gefängnis verbringen. «Zehn Tage für zehn Strophen, ich segne jeden Tag», dichtete er darauf. Diese Ehre ist mir bis jetzt nicht widerfahren. Vielleicht liegt es an mir, vielleicht ist die Zeit so auf den Hund gekommen, dass sie sich nicht einmal mehr beleidigt fühlt, wenn mit ihr aufs allerschärfste umgesprungen wird.
Meine Mutter (der ich äusserlich gleiche) stammt aus einem schönen Dorf nahe den Bergen. Ihr Vater war Gemeindepräsident und Patriarch. Das Dorf, in welchem ich geboren wurde und aufwuchs, ist nicht schön, ein Konglomerat von städtischen und dörflichen Gebäuden, doch die kleinen Dörfer, die es umgeben und die zur Gemeinde meines Vaters gehören, waren echtes Emmental und wie von Jeremias Gotthelf beschworen (und so ist es noch heute). Es ist ein Land, in welchem die Milch die Hauptrolle spielt. Sie wird von den Bauern in grossen Kesseln nach der Milchsiederei, einer grossen Fabrik mitten im Dorfe, der Stalden AG, gebracht.
In Konolfingen erlebte ich auch meine ersten künstlerischen Eindrücke. Meine Schwester und ich wurden vom Dorfmaler gemalt. Stundenlang malte und zeichnete ich von nun an im Atelier des Meisters. Die Motive Sintfluten und Schweizerschlachten. Ich war ein kriegerisches Kind. Oft rannte ich als Sechsjähriger im Garten herum, mit einer langen Bohnenstange bewaffnet, einen Pfannendeckel als Schild, um endlich meiner Mutter erschöpft zu melden, die Österreicher seien aus dem Garten gejagt.
Das Urteil war kurz und bündig: Der wird Oberst
Wie sich meine kriegerischen Taten aufs Papier verzogen und immer grausamere Schlachten die geduldige Fläche bedeckten, wandte sich meine Mutter verängstigt an den Kunstmaler Cuno Amiet, der die blutrünstigen Blätter schweigend betrachtete, um endlich kurz und bündig zu urteilen: Der wird Oberst.
Der Meister hatte sich in diesem Fall geirrt: Ich brachte es in der schweizerischen Armee nur zum Hilfsdienstsoldaten und im Leben nur zum Schriftsteller. Die weiteren Wege und Irrwege, die mich dazu führten, will ich hier nicht beschreiben. Doch habe ich in meiner heutigen Tätigkeit aus der Welt meiner Kindheit Wichtiges herübergerettet: Nicht nur die ersten Eindrücke, nicht nur das Modell zu meiner heutigen Welt, auch die «Methode» meiner Kunst selbst.
Wie mir im Atelier des Dorfkünstlers die Malerei als ein Handwerk gegenübertrat, als ein Hantieren mit Pinsel, Kohle und Feder usw., so ist mir heute die Schriftstellerei ein Beschäftigen und Experimentieren mit verschiedenen Materialien geworden. Ich schlage mich mit Theater, Rundfunk, Romanen und Fernsehen herum, und vom Grossvater her weiss ich, dass Schreiben eine Form des Kämpfens sein kann.»
Doch während neue Biografien seines Zeitgenossen Max Frisch (der am 4. April 2011 ebenfalls den zwanzigsten Todestag hat und am 15. Mai den hundertsten Geburtstag hätte) schon jetzt erscheinen, lässt sich der Dramatiker und Zeichner Dürrenmatt mehr Zeit. Der Band «Sein Leben in Bildern», der mit Texten aus dem Nachlass und unveröffentlichten Fotos aus dem Archiv reich bestückt ist, erscheint erst im Frühjahr 2011 im Diogenes-Verlag.
Schon heute aber veröffentlicht die SonntagsZeitung Fotos und ein Faksimile daraus. Im folgenden Text, der in seiner handschriftlichen Form rechts oben abgedruckt ist, schildert Dürrenmatt seine Herkunft und wie alles begann. Mit der für ihn typischen Ironie und mit scharfem Auge für die Widersprüche seiner Zeit – und in einer ordentlichen Handschrift.
«Ich wurde am 5. Januar 1921 in Konolfingen (Kanton Bern) geboren. Mein Vater war Pfarrer, mein Grossvater väterlicherseits Politiker und Dichter im grossen Dorfe Herzogenbuchsee. Er verfasste für jede Nummer seiner Zeitung ein Titelgedicht. Für ein solches Gedicht durfte er zehn Tage im Gefängnis verbringen. «Zehn Tage für zehn Strophen, ich segne jeden Tag», dichtete er darauf. Diese Ehre ist mir bis jetzt nicht widerfahren. Vielleicht liegt es an mir, vielleicht ist die Zeit so auf den Hund gekommen, dass sie sich nicht einmal mehr beleidigt fühlt, wenn mit ihr aufs allerschärfste umgesprungen wird.
Meine Mutter (der ich äusserlich gleiche) stammt aus einem schönen Dorf nahe den Bergen. Ihr Vater war Gemeindepräsident und Patriarch. Das Dorf, in welchem ich geboren wurde und aufwuchs, ist nicht schön, ein Konglomerat von städtischen und dörflichen Gebäuden, doch die kleinen Dörfer, die es umgeben und die zur Gemeinde meines Vaters gehören, waren echtes Emmental und wie von Jeremias Gotthelf beschworen (und so ist es noch heute). Es ist ein Land, in welchem die Milch die Hauptrolle spielt. Sie wird von den Bauern in grossen Kesseln nach der Milchsiederei, einer grossen Fabrik mitten im Dorfe, der Stalden AG, gebracht.
In Konolfingen erlebte ich auch meine ersten künstlerischen Eindrücke. Meine Schwester und ich wurden vom Dorfmaler gemalt. Stundenlang malte und zeichnete ich von nun an im Atelier des Meisters. Die Motive Sintfluten und Schweizerschlachten. Ich war ein kriegerisches Kind. Oft rannte ich als Sechsjähriger im Garten herum, mit einer langen Bohnenstange bewaffnet, einen Pfannendeckel als Schild, um endlich meiner Mutter erschöpft zu melden, die Österreicher seien aus dem Garten gejagt.
Das Urteil war kurz und bündig: Der wird Oberst
Wie sich meine kriegerischen Taten aufs Papier verzogen und immer grausamere Schlachten die geduldige Fläche bedeckten, wandte sich meine Mutter verängstigt an den Kunstmaler Cuno Amiet, der die blutrünstigen Blätter schweigend betrachtete, um endlich kurz und bündig zu urteilen: Der wird Oberst.
Der Meister hatte sich in diesem Fall geirrt: Ich brachte es in der schweizerischen Armee nur zum Hilfsdienstsoldaten und im Leben nur zum Schriftsteller. Die weiteren Wege und Irrwege, die mich dazu führten, will ich hier nicht beschreiben. Doch habe ich in meiner heutigen Tätigkeit aus der Welt meiner Kindheit Wichtiges herübergerettet: Nicht nur die ersten Eindrücke, nicht nur das Modell zu meiner heutigen Welt, auch die «Methode» meiner Kunst selbst.
Wie mir im Atelier des Dorfkünstlers die Malerei als ein Handwerk gegenübertrat, als ein Hantieren mit Pinsel, Kohle und Feder usw., so ist mir heute die Schriftstellerei ein Beschäftigen und Experimentieren mit verschiedenen Materialien geworden. Ich schlage mich mit Theater, Rundfunk, Romanen und Fernsehen herum, und vom Grossvater her weiss ich, dass Schreiben eine Form des Kämpfens sein kann.»
Autor:in
Sonntags Zeitung / Aus: Literatur und Kunst, Dürrenmatt Werkausgabe 1980
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Erstellt:
05.12.2010
Geändert: 05.12.2010
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