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Fussball - Der etwas andere Aufstieg

Quelle
Berner Zeitung BZ

Der in Stettlen lebende Anojen Kanagasingam (25) ist ein Schiedsrichtertalent. Seit dieser Saison pfeift er in der Challenge League. Ein Fehlentscheid eines Kollegen war der Auslöser für seine Karriere.

Anojen Kanagasingam leitet seit dieser Saison Spiele in der Challenge League. (Bild: Christian Pfander)

Heute kann Anojen Kanagasingam über die Geschichte schmunzeln. «Doch damals ging es gefühlt um Leben und Tod. Ich war am Boden zerstört, frustriert und extrem wütend», sagt er. Damals, im Frühjahr 2011, peilte er als 17-jähriger Fussballer mit dem SC Ittigen die Promotion in die 3. Liga an, ehe ein Schiedsrichter im entscheidenden Spiel aus Sicht Kanagasingams bös patzte und die Aufstiegsträume mit einem Fehlentscheid zunichtemachte. Was ihn bis heute ärgert: «Der Schiedsrichter musste zwar kurzfristig einspringen, weil der ursprünglich Aufgebotene ausfiel. Doch er wärmte sich kaum richtig auf und wirkte unmotiviert.» Kanagasingam, der sich als Spieler der Kategorie Heisssporn zuordnet, der gerne mit den Schiedsrichtern diskutiert habe, sinnierte über dieses Erlebnis und gelangte zur Erkenntnis, dass er als Unparteiischer wohl eine bessere Figur abgegeben hätte. Und wie es das Schicksal so will, fragte ihn kurz darauf ein Trainer an, ob er bei einem E-Juniorenturnier als Schiedsrichter fungieren wolle. Er sagte zu, und die Erfahrung imponierte ihm nachhaltig. «Die Eltern am Spielfeldrand waren voller Energie, schrien, kommentierten. Das spornte mich an, gut zu pfeifen. Ich wollte mich beweisen», erzählt der 25-Jährige. Bald darauf absolvierte er einen Kurs in der Lenzerheide, wo er in die Geheimnisse des Schiedsrichterwesens eingeführt wurde. Es befähigte ihn, auch Spiele von älteren Junioren zu leiten.
 

Steiniger Weg nach oben

Fast acht Jahre später, am 25. August 2019, debütierte der in Stettlen wohnhafte Kanagasingam im Profifussball als Referee in der Challenge League beim Match des FC Schaffhausen gegen Stade Lausanne. Es war der vorläufige Höhepunkt eines beeindruckenden Aufstiegs, den der Wissenschaftliche Mitarbeiter des Schweizerischen Polizeiinstituts in Neuenburg hingelegt hat. Dazwischen liegt aber auch eine Phase, in der es nicht immer nur bergauf ging. Eine Zeit, in der ihn die Mutter zu den Spielen fuhr, weil er den Fahrzeugausweis noch nicht im Sack hatte. Bis ins Jahr 2014 stagnierte er auf Stufe B-Junioren, und die Inspizienten machten ihm wenig Hoffnung, dereinst aufzusteigen. «Das war ein Dämpfer, weil ich nach oben wollte.» Doch Kanagasingam ist ein smarter Typ. Und er verfügt über Ehrgeiz und Lernbegierde. Selbstreflexion betrachtet der äusserst eloquente Mann, der als Sohn tamilischer Eltern in Ittigen bei Bern aufwuchs, als eine seiner Stärken. Also analysierte er die Situation, hinterfragte sich und arbeitete an seinen Schwächen. Er gewann an Profil und Sicherheit, was auch den Inspizienten nicht verborgen blieb. Und so kamen die ersten Einsätze im Erwachsenenfussball, wo er sich etablierte und den Sprung bis in die 2. Liga schaffte. Dort hatte er plötzlich auch Assistenten mit an Bord. «Das war nochmals eine neue Erfahrung. Es geht nicht nur um richtige Entscheidungen auf dem Platz. Du bist der Captain eines Trios, musst dich durchsetzen und hast mehr Verantwortung.»
 

Bis zu 30 Stunden Aufwand

Kanagasingam entwickelte sich mit Beharrlichkeit zu einem Spitzenreferee. Seit diesem Sommer gehört er dem Pool Unparteiischer an, die bis in die Challenge League Spiele leiten. «Auch wenn ich im Privatleben auf einiges verzichten muss, bin ich froh, diese Chance erhalten zu haben», sagt er. Zwischen 25–30 Stunden pro Woche steckt er in seine Passion, obschon er in seinem Job zu 100 Prozent angestellt ist – er möchte im Winter auf 80 Prozent reduzieren. Er investiert in die Fitness, denn pro Spiel rennt er bis zu 12 Kilometer. Er recherchiert vor den Partien sorgfältig, wie sich etwaige Spieler verhalten, verschafft sich so viele Informationen wie möglich. «Es geht darum, auf dem Platz möglichst wenige Überraschungen zu erleben.» Auch die Reiserei frisst Zeit, und dass er jedes Spiel sorgfältig nachbereitet, gehört auf diesem Niveau zum Usus. Dass das Dasein als Spitzenschiedsrichter viele Facetten aufweist, fasziniert ihn. «Du hast die Bibel, also das Regelwerk, das du beherrschen musst. Du musst kommunizieren können und brauchst soziale Kompetenzen.» Und was ist mit den Negativmomenten, in denen er zur Zielscheibe verkommt und auch mal beleidigende Worte fallen? «Das kann nach wie vor einfahren. Aber ich versuche mir dann zu sagen, dass die Schlötterlinge nicht gegen mich als Person, sondern gegen meine Uniform gerichtet sind.» Und dass sie wohl vor allem auch Ausdruck von Unzufriedenheit über die eigene Leistung seien. Grundsätzlich sei er durch seine Erfahrungen als Schiedsrichter als Privatperson ruhiger geworden. Dafür habe sich sein Blick auf ein Fussballspiel in all den Jahren verändert. «Wenn ich Partien in der Champions League schaue, muss ich immer auch den Schiedsrichter beobachten, wie er sich verhält, wie er es auf dem Feld managt», sagt er. Kanagasingam ist Schiedsrichter durch und durch und ein sehr talentierter dazu. Weitere Beförderungen sind für die Zukunft alles andere als ausgeschlossen. Und so hat die schwache Leistung des unmotivierten Schiedsrichterkollegen, der Kanagasingam und seinem SC Ittigen 2011 den Aufstieg verwehrte, irgendwie doch ihr Gutes…


Autor:in
Adrian Lüpold, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 24.09.2019
Geändert: 24.09.2019
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