• Region

Herbligen - Das Meer lässt ihn nicht mehr los

Quelle
Berner Zeitung BZ

Walter Zürcher fuhr als Funker auf Schiffen der Schweizer Hochseeflotte rund um die Welt. Die Schifffahrt prägte sein ganzes Leben: Der passionierte Historiker hat bereits vier Bücher darüber veröffentlicht.

Schiffe faszinieren ihn bis heute: Walter Zürcher in Thun. (Bild: Patric Spahni)
Das Kühlschiff MS Favorita (1978).(Bild: zvg)
Walter Zürcher brät auf einer Reise mit der MS Cassarate in einem südamerikanischen Hafen ein Spanferkel. (Bild: zvg)
Mittagspause auf dem Pooldeck der MS Favorita. Von links: Der Koch, der Chief Steward und Schiffsfunker Walter Zürcher. (Bild: zvg)

22 Jahre alt ist Walter Zürcher, als er im Sommer 1978 in der Normandie, im Hafen von Dieppe, ankommt. Vor ihm liegt die MS Favorita, ein Hochseefrachter, 150 Meter lang. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht Zürcher ein Hochseeschiff – und ist fasziniert. «Obwohl die Favorita vergleichsweise klein war», sagt der heute 63-Jährige und lacht. Er serviert Kaffee und Kekse von Kambly – «mein Heimatort ist Trubschachen» – in seinem Wohnzimmer in Herbligen. Die Erinnerung liegt über 40 Jahre zurück, doch losgelassen hat sie Walter Zürcher nie.

 

«Die Seefahrt hat mich geprägt.» Obwohl er sich nach abenteuerlichen Jahren auf See dazu entschied, wieder mit festem Boden unter den Füssen zu leben: Der passionierte Hobby-Historiker recherchierte und schrieb zahlreiche Artikel für Fachzeitschriften und veröffentlichte vier Bücher über die Schweizer Hochseeschifffahrt. Das letzte erschien im Frühling 2018 (vgl. unten).

 

Schnittstelle zur Aussenwelt

Wasser spielte in jungen Jahren bei Walter Zürcher eine kleine Rolle. Zwar wuchs der gebürtige Glarner am Walensee auf, aber ausser einigen Ausfahrten mit dem Ruderboot konnte er dem Gewässer wenig abgewinnen. «Dass ich ausgerechnet in der Hochseeschifffahrt landete, war purer Zufall», sagt Zürcher. Nach der Schule absolvierte er eine Lehre zum Elektromonteur und wusste: Das ist es nicht. Kurz vor Ende der Ausbildung hörte er von der Schiffsfunkerschule in Bern – und war begeistert. Zwei Jahre später musterte er in Dieppe an.

 

Das erste Ziel: der Hafen von Fort-de-France, Martinique, Karibik. 6000 Tonnen Bananen sollten dort geladen und nach Hamburg verschifft werden. «Zuvor hatte ich es knapp ins nahe Ausland geschafft.» Als er nach sieben Tagen Fahrt in Übersee angekommen sei, habe er Tränen in den Augen gehabt: «Ein erhabenes Gefühl.» Es folgten Häfen in Panama, Venezuela, den USA, Kanada, Südafrika, Deutschland, den Niederlanden, Brasilien – während dreier Jahre fuhr Zürcher rund um die Welt.

 

Auf dem Schiff war er der Einzige, der sein Handwerk verstand. Es gab keinen Ersatzfunker. Gearbeitet wurde sieben Tage die Woche. Der junge Mann sass acht Stunden am Tag vor einer grossen Funkanlage in seiner Kabine auf dem Brückendeck. «Meine Aufgabe war es, Telegramme von Küstenfunkstellen abzuhören oder selbst welche zu versenden. Sie enthielten etwa den Wetterbericht oder Informationen zu unserer Reiseroute.» Auf dem Schiff war Zürcher die Schnittstelle zur Aussenwelt, der Ort, an dem alle Fäden zusammenliefen.

 

Er verständigte sich mittels Morsecode: «Satellitentelefone oder Internet waren Anfang der Achtziger kein Thema.» Zusätzlich fiel ihm die Rolle des Zahlmeisters zu. «Ich machte die Lohnabrechnungen für die gesamte Besatzung und verwaltete das Geld.» Nicht selten sei es vorgekommen, dass sich Matrosen bei ihm einen Vorschuss für den Aufenthalt im nächsten Hafen abgeholt hätten. Auch der Schiffskiosk wurde von Zürcher betrieben: So konnten die Seeleute sich auch unterwegs mit Luxusgütern wie Alkohol oder Süssigkeiten eindecken.

 

Zeit der Abenteuer

Trotz der grossen Verantwortung gefiel Zürcher das Leben auf See auf Anhieb: «Ich lebte mich sehr schnell ein – nachdem ich die Seekrankheit der ersten Wochen überwunden hatte.» Er konnte sich seine Arbeitszeit selbst einteilen, ihm blieb viel Zeit fürs Lesen und Schreiben, er führte lange Gespräche mit den wachhabenden Offizieren. «Auf der Favorita gab es ausserdem einen Pool an Deck – westlich der Azoren luden die Temperaturen jeweils zum Bad ein.»

 

So entspannt ging es in Walter Zürchers Seemannsjahren aber bei weitem nicht immer zu. Auf einer Fahrt durch den Nordatlantik eines Winters wurde die Favorita von einem Sturm dermassen durchgerüttelt, dass ans Funken nicht zu denken war. «Ich wurde in meiner Kabine ständig von einer Wand an die andere geschleudert», erinnert sich Zürcher. Nachdem er das Problem dem Kapitän geschildert hatte, schickte dieser Hilfe: Zwei Matrosen stemmten sich links und rechts gegen Zürchers Stuhl und fixierten diesen gerade gut genug, dass der Funker ein Telegramm abgeben konnte – überlebenswichtig für die Besatzung.

 

Unvergessen ist auch die Erinnerung an eine durchzechte Nacht in einem Hafen von Nicaragua. Zürcher war, gemeinsam mit dem Schiffskoch, auf nächtlicher Tour unterwegs. «Als wir im Morgengrauen zum Schiff zurückkehren wollten, war dieses bereits ausgelaufen.» Gestrandet am Ende der Welt? «Der Kapitän hatte glücklicherweise unsere Pässe im Hafenbüro zurückgelassen.» Solche Episoden schildert Zürcher eine nach der anderen und schmunzelt, wenn er sagt: «Ja, es war eine abenteuerliche Zeit.» Eine Zeit, die ihn reich an Erfahrungen gemacht und Verantwortung gelehrt habe. Und eine Zeit, die eigentlich noch länger hätte dauern sollen, als sie es tat.

 

An die Ostsee

Doch die Liebe durchkreuzte seine Pläne. «Ich wäre gerne auf dem Schiff geblieben. Aber das wäre mit einer Beziehung schwer vereinbar gewesen.» Bevor er sich nach einer Stelle auf dem Festland umsehen musste, flatterten bereits Angebote ins Haus: Das EDA wollte Zürcher als Botschaftsfunker in Tel Aviv verpflichten, später standen Teheran und Tokio zur Debatte, doch: «Mal waren die Behörden nicht einverstanden, dass ich meine damalige Verlobte mitnehmen wollte; mal sagte mir die Destination nicht zu. Es klappte nicht», sagt Zürcher.

 

Bis der Anruf vom VBS kam. Die damalige Abteilung für elektronische Kriegsführung verpflichtete den Funker. Über 30 Jahre war er für das Verteidigungsdepartement in der Aussenstelle nahe Schaffhausen tätig. Als 2013 jene Dienste im Zentrum für elektronische Operationen zentralisiert wurden, zog Zürcher mit seiner Partnerin Jacqueline Preisig nach Herbligen.

 

An den Thunersee habe es ihn damals nicht gezogen – lag doch sein Motorboot auch nach dem Umzug weiterhin auf dem Bodensee. Die langen Fahrten dorthin wurden seiner Partnerin und ihm schliesslich zu aufwendig: «Wir haben das Schiff schweren Herzens verkauft.» Doch dem Element Wasser bleibt Walter Zürcher treu. Nach seiner Pensionierung in rund zwei Jahren erfüllt er sich einen Traum und zieht mit seiner Partnerin ins eigene Haus nach Schleswig-Holstein, 20 Minuten von der Ostsee, 45 Minuten von der Nordsee entfernt. «Das Meer lässt mich nicht mehr los.»

 

Vom Seefahrer zum Autor

Auch zum Schreiben kam Walter Zürcher durch Zufall. Auf einer Schiffsreise nahm er als Funker Kontakt zur Zeitung «Glarner Nachrichten» auf, um für seine Mitreisenden ein Sportresultat zu erfragen. «Daraufhin fragten sie zurück, ob ich einen Artikel über das Leben auf See schreiben könne.» Zürcher konnte – und es blieb nicht bei diesem einen Artikel. Er schrieb für zahlreiche Fachzeitschriften, gab Auskünfte für Medien und veröffentlichte vier Bücher zur Schweizer Hochseeschifffahrt. Das letzte erschien im März 2018 und trägt den Titel «Schweizer zur See – drei Persönlichkeiten und ihre Schiffe». Walter Zürcher hat dafür drei Männer aus verschiedenen Epochen porträtiert, die eine prägende Rolle in der Schifffahrt spielten.

 

Edward Walter Eberle lebte im 19. Jahrhundert in den USA und war der Sohn eines Schweizer Auswanderers vom Walensee, Zürchers Heimat. «Er schaffte es in den USA bis zum Admiral», sagt Zürcher. Er stiess in einem Londoner Archiv zufällig auf Eberle: «Es gibt bisher keine Publikationen zu seiner Person.» Weitere Kapitel sind dem Seeländer Kapitän Fritz Gerber und Henry Felix Tschudi, der als Sohn eines Reeders zahlreiche Stationen vom Matrosen bis zum Kapitän durchlief, gewidmet. «Ich bin ein begeisterter Rechercheur und Leser», sagt Zürcher von sich selbst. Er forscht in Archiven in London, Oslo oder Amsterdam, engagierte auch schon Profi-Historiker für seine Suchen.

 

«Unterdessen habe ich ein internationales Netzwerk von Bekannten und Freunden, die mir Inputs und Infos liefern.» Es sei auch schon vorgekommen, dass er eine ganze Woche im Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven verbracht und gesucht habe, ohne zu wissen, ob dabei etwas herausschaue. Ideen für Bücher, sagt Zürcher, habe er noch viele. «Doch mir fehlt die Zeit, diese umzusetzen.» Er könne sich jedoch vorstellen, im neuen Zuhause an der Ostsee gemeinsam mit seiner Partnerin Jacqueline Preisig, einer promovierten Sprachwissenschaftlerin, ein neues Buchprojekt in Angriff zu nehmen. (jzh)

 

www.walter-zuercher.ch


Autor:in
Janine Zürcher, Berner Zeitung BZ
Nachricht an die Redaktion
Statistik

Erstellt: 09.12.2019
Geändert: 09.12.2019
Klicks heute:
Klicks total: