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Kirschenjahr 2018: Gross, schön und knackig

Quelle
Der Bund

Ein Plantagenbesuch in Bolligen macht klar: Nur Obstprofis verdienen mit Kirschen noch Geld. Alles andere ist Nostalgie.

Keine Chance für Insekten, Vögel oder Rehe: Die Kirschenplantage in Bolligen ist mit Netzen gesichert. (Bilder: Franziska Rothenbühler)
Die Bäume werden schräg gepflanzt. So erreichen sie nicht die Höhe, die sie erreichen könnten. Das ist praktisch für die Ernte.
In der Plantage der Familie Stettler ist eine Kirsche schöner als die andere.

«Die Maschenweite beträgt nur 0,9 Millimeter», sagt Walter Stettler, als er beim Eingang das Netz hochhebt. Es reicht um die ganze Plantage herum, die eine halbe Hektare bedeckt, also circa 100 Meter lang und 50 Meter breit ist. Das Netz hält Insekten vom Eindringen ab. Im Frühling wird es selbstverständlich beiseite geschoben, damit die Bienen die Blüten bestäuben können.

 

Gegen oben ist die Plantage ebenfalls abgeschlossen: Über den Bäumen sind Blachen befestigt, die als Regendächer dienen. Werden Kirschen nass, springt ihre Haut auf und es entstehen Risse. Über den Dächern sind nochmals Netze aufgespannt – gegen Vögel. Sie müssen nicht so engmaschig sein wie die Seitennetze, denn Insekten fliegen am Boden entlang und finden den Zugang von oben nicht, wie Stettler erklärt.

 

So sieht es heute also aus, wenn ein Bauer Kirschen produziert. Mit freistehenden Bäumen und langen Leitern, die ins Blätterdach einsinken, hat das alles nichts mehr zu tun. «Das ist vorbei», sagt Stettler. Wer heute mit Kirschen etwas verdienen wolle, müsse professionell vorgehen, sonst rentiere es nicht. Bäume, Bewässerungssystem, Netze: Bevor eine solche Plantage Ertrag abwerfe, seien grosse Investitionen nötig.

 

Wachstum in zwei Dimensionen

 

Walter Stettler hat den Eingang wieder sorgfältig verschlossen. Besonders gefährlich sei die Kirschessigfliege; innert zehn Tagen könne sie eine ganze Ernte vernichten, sagt er und zeigt nun auf die Kirschbäume. Sie stehen in Reih und Glied, 21 Reihen mit jeweils 25 Bäumen. Allerdings sind die einzelnen Bäume nicht mehr als solche zu erkennen, man könnte auch nicht ohne weiteres um sie herumgehen. Stettler verwendet ein interessantes Wort: Er spricht von Baumwänden.

 

Baumwände: Das trifft es genau. Der Begriff kommt daher, dass den Bäumen und ihren Ästen für das Wachstum eigentlich nur zwei Dimensionen zugestanden werden: nach vorne und nach hinten, hinauf und hinab. Seitlich aus der Reihe tanzen ist kaum erlaubt. Eine Baumwand habe beträchtliche Vorteile, sagt der Obstbauer. Beim Pflanzenschutz zum Beispiel: Dieser könne viel wirkungsvoller erfolgen als bei freistehenden Bäumen, wo zwei Drittel des Spritzmittels das Ziel verfehlten. Bei einer Baumwand liessen sich feinere Tröpfchen verspritzen, und diese landeten erst noch dort, wo sie hingehörten. «Das ist viel ökologischer», sagt Stettler und stellt doch eines klar: «Obstbau ganz ohne Pestizide funktioniert nicht.»

 

Noch etwas anderes ist ungewöhnlich in dieser Plantage: Die Bäume sind schräg gepflanzt worden; ihre Stämme wachsen in einem 45-Grad-Winkel. Mit der Pythagoras-Formel lässt sich der Vorteil leicht berechnen: Ein Baum, der mit senkrechtem Stamm sechs Meter hoch wäre, erreicht in der Plantage nur etwas über vier Meter. «Die Ernte wird dadurch einfacher», sagt Stetter. Und damit meint er ökonomischer. «Früher brauchte man bei der Kirschenernte die halbe Zeit, um die Leiter neu zu platzieren», sagt er. In ihrer Plantage erreiche man die meisten Kirschen vom Boden aus. Und um an die obersten heranzukommen, genüge eine kleine, leichte Leiter. So erziele man gute Ernteleistungen. Gut bedeutet: eine Menge von ungefähr 20 Kilogramm pro Stunde.

 

Der Tag beginnt um fünf Uhr

 

Stettler führt den Betrieb an der Flugbrunnenstrasse in Bolligen zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn. Nebst dem Anbau verschiedener Obstsorten auf 3,5 Hektaren halten sie Rinder, Schafe und Pferde. Die Kirschenernte schaffen sie nur, wenn sie drei Personen anstellen und zeitweise auf die Hilfe von Bekannten zählen können. «Diese Zeit ist sehr arbeitsintensiv», sagt er. Der Tag beginne um fünf Uhr und ende spät. Damit nicht alle Kirschen gleichzeitig reif werden, stehen verschiedene Sorten in der Plantage. Die frühesten sind Mitte Juni reif, die spätesten Anfang August.

 

Bei guten Verhältnissen wirft die Plantage 2 bis 2,5 Kilogramm Kirschen pro Quadratmeter Anbaufläche ab. Das ergibt eine Menge von zehn oder mehr Tonnen. Vermarktet wird die ganze Ernte privat, also über den Hofladen und auf Märkten. Stettlers unterhalten Stände auf dem Märit in Bern, in Bolligen, Schönbühl und neu auch in Worb. Mit Kirschen könne man durchaus Geld verdienen, sagt er. Man dürfe es aber nicht halbherzig angehen. Zudem sei das Geschäft mit Risiken behaftet. Letztes Jahr vernichtete ein Kälteeinbruch über 90 Prozent der Ernte. «Solche Verluste muss man überbrücken können.»

 

Weil die Bäume letztes Jahr fast keine Früchte trugen, konnten sie Energie sparen. Und da der Vegetationsverlauf in dieser Saison nahezu perfekt war, sei der Ertrag nun umso grösser, sagt Stettler. Aber nicht nur bei ihm. «Die Verhältnisse waren derart gut, dass beinahe schon auf Telefonstangen Kirschen wuchsen», sagt er und lacht. Und er lobt die Qualität des aktuellen Kirschen-Jahrgangs: «Die ist aussergewöhnlich.»

 

Das perfekte Jahr ist nicht perfekt

 

Doch wirklich lustig ist es für ihn nicht. Ein sehr gutes Kirschenjahr bedeutet, dass auch alle anderen Bäume, die in normalen Jahren kaum Ertrag abwerfen, reich behangen sind. Bauern, die noch solche Bäume haben, verkaufen ihre Kirschen dann zu günstigen Preisen oder verschenken sie sogar. «Das belastet den Markt», sagt Stettler und räumt ein, dass ein perfektes Kirschenjahr für ihn, den Profi, nicht unbedingt perfekt ist.

 

Allerdings werden Stettlers und andere Obstbauern mit ihren Plantagen immer einen Vorteil haben. Denn unter Regendächern und geschützt vor Vögeln lassen sich richtig grosse Kirschen mit makelloser Haut kultivieren. Stettlers grösste Kirschen sind dicker als drei Zentimeter und damit schon fast so gross wie Aprikosen. Kleine Kirschen dagegen werden nur noch in kleinen Mengen und zu tieferen Preisen verkauft. Stettler weiss, welche Kirschen Kunden heute wollen: «Grosse und knackige.»

 

Mehr Bilder aus Stettlers Kirschenplantage an der Flugbrunnenstrasse in Bolligen. kirsche.derbund.ch

 

Ausnahmejahr -  So viele Kirschen, dass gar nicht alle geerntet werden

 

Das Wetter hat perfekt mitgespielt. Sogar vernachlässigte Kirschbäume sind heuer reich mit Früchten behangen.

 

Kaum Kälteeinbrüche, wenig Pilzkrankheiten und bisher noch kein Problem mit der Kirschessigfliege: Das Kirschenjahr 2018 wird als gutes bis sehr gutes Jahr in die Steinobstgeschichte eingehen. Jürg Maurer, Geschäftsführer von Besofrisch, dem Obstverband für die Kantone Bern, Solothurn und Freiburg, sagt, der Vegetationsverlauf sei optimal verlaufen. Mengen und Qualität seien ausgezeichnet. Er spricht von Kalibergrössen, Zuckergehalt und Fruchtfestigkeit. Fruchtfestigkeit ist der Fachbegriff für die Knackigkeit.

 

Auch mit der Vermarktung ist Maurer zufrieden. Die verhältnismässig frühe Reife sei gleich aus zwei Gründen von Vorteil: Weil die Kirsche als Juni-Frucht gelte, sei die Nachfrage in dieser Zeit generell gut. Zudem falle die Kirschenernte nicht in die Ferien, was für den Absatz besser sei. Schaut man in die Kirschenstatistik, fällt der Unterschied zu den Vorjahren ins Auge: Die Erntespitze wurde ein paar Tage früher erreicht – Ende letzter Woche –, und die Mengen dürften insgesamt etwa anderthalb- bis zweimal so hoch ausfallen. Diese Woche wurden schweizweit täglich um die 100 Tonnen Kirschen mit einem Durchmesser von mehr als 24 Millimeter abgeliefert, wie aus den Tagesmeldungen zum Steinobst hervorgeht. Berücksichtigt dabei ist jedoch nur die sogenannte Handelsmenge, die vorab an Grossverteiler geht; die Kirschen, die direkt vermarktet werden, fallen nicht darunter.

 

Hochstammbaum hat ausgedient

 

Die Produktion von Kirschen hat sich laut Jürg Maurer in den letzten zwanzig Jahren komplett verändert. Heute können in professionell betriebenen Kulturen grossfruchtige Premiumsorten gezüchtet werden – unter anderem dank Witterungsschutz. Solche Superkirschen lassen sich für über zehn Franken pro Kilogramm verkaufen. Der klassische Hochstammbaum dagegen gerät immer mehr ins Hintertreffen. Es gibt ihn zwar noch, aber er wird zunehmend vernachlässigt – denn es ist sehr aufwendig, ihn zu schneiden, mit Pflanzenschutzmitteln zu behandeln und die Früchte gegen Vogelfrass zu schützen.

 

Bei idealen Bedingungen wie in diesem Jahr sind aber auch diese Bäume reich mit Kirschen behangen. Die Rede ist dann von Zufallsproduktion, wie Maurer sagt. Nur: Für die Bauern lohnt sich die Ernte kaum. Es sei sehr aufwendig, die Kirschen von einem solchen Baum abzulesen – und auch nicht ungefährlich. Darum komme es immer wieder vor, dass Früchte hängen bleiben – «was die Vögel umso mehr freut».

 

Kirschen als «Wochenknaller»

 

Dass im Moment viele Kirschen auf dem Markt sind, wird in den Läden der Grossverteiler sichtbar. Coop zum Beispiel verkauft das Kilogramm Kirschen für 5.90 Franken statt für 15.90 und nennt das den «Wochenknaller». Die Aktion sei längerfristig geplant worden, heisst es bei der Pressestelle. Die Erntemengen seien «deutlich grösser» ausgefallen als im Vorjahr. In solchen Fällen versuche Coop, den Schweizer Produzenten durch kurzfristige zusätzliche Aktionen Hand zu bieten. Dieses Jahr seien schon verschiedene Aktionen auf Kirschen durchgeführt und auch mehr als im Vorjahr verkauft worden. Genauere Angaben dazu will Coop nicht machen. 

 


Autor:in
Dölf Barben, Der Bund
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Erstellt: 07.07.2018
Geändert: 07.07.2018
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