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Loryheim Münsingen - Wenn das Heim zum Gefängnis wird

Lorenza Bergmann lebte als 16-Jährige für einige Monate im Jugendheim Lory in Münsingen. Heute, vier Jahre später, will sie ihre Erlebnisse öffentlich erzählen. Die ehemalige Bewohnerin sieht im Loryheim nichts anderes als ein Gefängnis. Sie schlägt aber auch selbstkritische Töne an.

Das Loryheim in Münsingen. (Archivbild BERN-OST)

Es falle ihr nicht leicht, darüber zu sprechen, sagt Lorenza Bergmann*, die ihren richtigen Namen nicht öffentlich nennen will. Auch nach vier Jahren nicht. Aber es ist offensichtlich: Es muss etwas raus. Bergmanns Lippen beben ein bisschen, wenn sie spricht, die Augen funkeln. Vor ihr auf dem Tisch liegt eine Mappe mit ihren Akten. "Ich habe noch alles im Kopf. Ich weiss noch, wie jeder verdammte Raum ausgesehen hat." Die Gitter an den Fenstern, die schweren Türen. Dass sie irgendwann mit dem Erlebten an die Öffentlichkeit gehen würde, war ihr schon länger klar. Bisher fehlte ihr allerdings die Kraft. Jetzt, mit 20 Jahren, ist sie bereit dazu. 

 

Per Zufall sei sie über den Artikel "Loryheim will Knast-Image loswerden" gestolpert, den BERN-OST am 19.3.2019 publiziert hat. Darin geht es um pädagogische und strategische Neuausrichtungen des kantonalen Heims. "Man will jetzt der Öffentlichkeit erzählen, es sei gar nicht so schlimm im Heim", sagt Bergmann. Sie könne den Artikel unmöglich so stehen lassen.

 

Stempel "schwer erziehbar"

Dass sich ehemalige Bewohnerinnen an die Öffentlichkeit wenden, kommt immer wieder vor. Sie erheben ihre Stimmen in Form von Erfahrungsberichten oder Kommentaren. Im Loryheim leben 28 Mädchen und junge Frauen, verteilt auf eine geschlossene, eine halbgeschlossene und eine offene Wohngruppe. Die halbgeschlossene und die geschlossene Gruppe sind von einem Zaun mit Stacheldraht umgeben, in der Geschlossenen werden die Bewohnerinnen über Nacht in ihren Zimmern eingesperrt. Für die Mehrzahl ist das Loryheim nicht die erste Institution. Die meisten haben schon in mehreren anderen Heimen gelebt, bevor sie nach Münsingen kommen.

 

So auch für Bergmann. Ihre Zeit in Kinder- und Jugendheimen begann bereits im Alter von zwei Jahren. Warum sie schon so früh ins Heim musste, hat man ihr nie gesagt. "Nie konnte ich mitreden, wo ich eigentlich hin will." Bergmann kam von Heim zu Heim. Bald habe sie den Stempel bekommen "schwer erziehbar". "Ich bin halt nicht der Typ Arschkriecher." Mit zwölf Jahren begann sie zu kiffen und zu trinken, die Auseinandersetzungen mit anderen häuften sich.

 

"Ich war die Schlimmste"

Eigentlich hätte sie am 8. Mai 2015 als 16-Jährige im Jugendheim Lory eintreten sollen. "Aber ich bin drei Wochen abgehauen." Die Polizei habe sie schliesslich aufgegriffen und im Heim abgeliefert. Dort kam sie in die geschlossene Abteilung. "Nicht meine erste geschlossene", wie sie sagt. Aber die Zeit im Loryheim sei sehr viel schwieriger gewesen als in den anderen Heimen. Es habe sich dort angefühlt wie im Gefängnis. Privatsphäre habe es nicht gegeben, sämtliche Briefe seien kontrolliert und durchgelesen worden, pro Tag habe sie nur eine Stunde Aussenaufenthalt gehabt. Dass man sich nun von dem Gefängnis-Bild distanzieren will, stört Bergmann. Lieber solle die Institution gleich Gefängnis heissen, findet sie. Sie sei selber auch nicht die Einfachste gewesen, sagt Bergmann von sich selber. "Ich war die Schlimmste." Sie habe sämtliche Medikamente und Therapien verweigert, habe häufig rebelliert und sich nichts sagen lassen. 

 

Hinzu kam ein persönlicher Schicksalsschlag: Kurz nachdem Bergmann im Loryheim untergekommen war, starb ihr Vater. Zunächst habe sie keine Erlaubnis bekommen, an der Beerdigung teilzunehmen. Für Bergmann brach eine Welt zusammen. Es sei ein Riesentheater gewesen, bis sie endlich die Erlaubnis bekommen habe, sagt sie. Als sie schliesslich an der Beerdigung teilnahm, riss die Jugendliche aus und kehrte nicht mehr in das Heim zurück. Erneut wurde sie von der Polizei aufgegriffen und zurück gebracht. Zwei weitere Monate lebte sie in Münsingen - bis sie im Oktober 2015 zum letzten Mal ausbrach, drei Wochen lang ihr Versteck nicht verliess und kein Handy bei sich hatte, aus Angst, geortet zu werden. Danach kehrte sie nicht mehr ins Heim zurück.

 

Die schlimmste aller Strafen

Vergessen und abgeschlossen habe sie die Zeit im Lory nicht. Die schlimmste aller Strafen sei das sogenannte "Disziplinarzimmer" gewesen. Bergmann habe diese Arrestzelle immer wieder von innen gesehen. Sie habe dort viel geweint, habe sich aber auch immer wieder gesagt, dass es irgendwann vorbei sein würde und die Tage gezählt. 

 

Viel mehr als ein Tagezählen sei ihr Aufenthalt im Loryheim nicht gewesen. "Da man immer davon ausging, ich würde abhauen, durfte ich nur intern arbeiten. Die Schule hatte ich bereits abgeschlossen. In die Berufe, die mich eigentlich interessierten, durfte ich nicht reinschnuppern." Die junge Bewohnerin hatte keine Perspektive, sie sah keinen Sinn in ihrem Aufenthalt, der sich für sie nur nach Gefängnis anfühlte und sie nicht auf eine selbständige Zukunft vorbereitete. Immer wieder habe man sie im Heim ausserdem entmutigt und ihr gesagt, dass aus ihr nichts werden würde. Einzig ein "Trostpflaster" ist ihr in Erinnerung geblieben: Die Stationskatze. Die habe ihr sehr geholfen.

 

Heimleiterin Eliane Michel möchte sich zu den Vorwürfen der ehemaligen Bewohnerin nicht äussern, sondern diese unkommentiert stehen lassen.

 

Ein Neustart

Entgegen aller Erwartungen hat Bergmann es geschafft. "Seit vier Jahren bin ich nicht mehr polizeilich aufgefallen." Ihr Ziel ist es, später eine Lehre als Tierpflegerin zu machen. Eine Praktikumsstelle hat sie bereits in Aussicht. 

 

*Name der Redaktion bekannt.


Autor:in
Annalisa Hartmann, annalisa.hartmann@bern-ost.ch
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Erstellt: 25.11.2019
Geändert: 25.11.2019
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