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Meme-Kultur: Kunst aus dem Netz

Das Internet polarisiert mit seinen Facetten an vielen Stellen. Bei den Memes hingegen zeigt sich in der Regel nach wie vor eine witzige aber besonne Komponente. Eine Veranschaulichung was passiert, wenn Bild - und Textkreation auf die Kreativität von Normalverbrauchern treffen.

Oftmals wird der Erfolg eines Memes nur von seiner Zeitgeistigkeit bestimmt. In diesem Sinne boten Hamsterkäufe der jüngsten Zeit eine breite Angriffsfläche für Memetik. (Bild: stock.adobe.com ©Annjane)

Ab ersten November wird zum vierten Mal der Digitaltag Schweiz stattfinden. Eine Veranstaltung an vielen Standorten der Schweiz, darunter auch bei uns in Bern, zu deren Natur es schon immer gehört, Menschen aller Couleur aufzuzeigen, wie weit Digitalisierung längst in unseren Alltag eingeflossen ist. Dieses Jahr wird der Digitaltag jedoch unter dem Schlagwort „phygital“ funktionieren: Wo die Veranstaltung sonst immer nur in physischer Manier über das Digitale referierte, wird sie in ihrer vierten Auflage einen logisch-evolutionären Schritt weitergehen und teilweise in digitaler Form erfolgen. Phygital ist dabei ein Stichwort, das auch wie kein zweites besser eine Kunstform zusammenfassen könnte, welche die meisten Internetnutzer bereits gesehen, wahrscheinlich schon geteilt und vielleicht sogar selbst erstellt haben: Memes.

 

Ein digitalkulturelles Gen

[Mem, das]. Dahinter verbirgt sich ein Kunstwort, das wesentlich älter ist als das Internet. Der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins ersann es bereits in den 1970ern, um eine griffige Bezeichnung für seine kulturelle Evolutionstheorie zu haben – das kulturelle Mem analog zum biologischen Gen.

 

Letztendlich bezeichnete Dawkins damit Ideen, die innerhalb der Kultur einen Replikationsprozess durchlaufen, sich dabei teilweise verändern und so einen ganz ähnlichen Evolutionsprozess durchlaufen wie es auch auf biologischer Ebene der Fall ist. Mitunter könnte man sogar Wilhelm Tell, speziell den Apfelschuss, als genuin schweizerisches Beispiel für ein Mem nennen – denn, wie in der Memtheorie postuliert, erfuhr auch dieser Gedanke einen (in diesem Fall Jahrhunderte überdauernden) Replikationsprozess und veränderte sich sogar.

 

Dies zeigt auch eine wichtige Tatsache auf: Ein Mem muss nicht digital sein. Allerdings ist völlig unzweifelhaft, dass nicht nur der Begriff, sondern die Idee an sich erst mit dem Aufstieg des Internets eine nicht nur sprichwörtlich globale Verbreitung erfuhr – auch wenn Richard Dawkins sicher nicht abgesehen hat, dass er damit einem zentralen kulturellen Inhalt der Digitalisierung nicht nur Namen, sondern auch Erklärung lieferte.

 

Lachen, kritisieren, Zynismus: Das vielfältige Meme

Aufmerksamen Lesern wird nicht entgangen sein, dass sich das Dawkin’sche analoge Mem und das Digitalkulturelle Meme um ein „e“ unterscheiden – dahinter verbergen sich jedoch nur die sprachlichen Unterschiede zwischen Deutsch und Englisch. So, wie es das englische Gene und das deutsche Gen gibt, verhält es sich auch mit Meme und Mem – die global korrekte Aussprache währe übrigens ein langgezogenes „Miehm“.

 

Doch was ist es, was das Meme zu einem so digitalkulturellen Phänomen gemacht hat? Dahinter verbirgt sich vor allem das, was das Netz, speziell die Technik dahinter, ermöglicht: Kopieren, Bearbeiten, Speichern, neu hochladen. Praktisch der „Ur-Sumpf“, aus dem das Meme, wie wir es heute kennen, an Land kroch.

 

An diesem Punkt zeigt sich auch die Brillanz Richard Dawkins und seines Postulats: Tatsächlich wie bei der genetischen Evolution begann bei der „memetischen“ Evolution alles im Kleinen. Netz-User hatten unfreiwillig komische Fotos, Ausschnitte aus Filmszenen, aber auch einfach nur Schlagworte, Ideen, Theorien.

 

Mithilfe des Computers und simpelster Grafikprogramme im Stil von „Paint“ wurden daraus die ersten digitalen Memes – das aus Einsen und Nullen bestehende Gegenstück zum Witzbild aus der Tageszeitung. Einige recht populäre Beispiele aus den Frühtagen der Meme-Kultur zwischen dem Jahrtausendwechsel und den frühen 10er Jahren:

 

  • Das Bild eines Shiba-Inu-Hundes. Dazu die falsche Buchstabierung des englischen Worts Dog als „Doge“ und einiger, um den Hund herum geschriebener „Gedanken“, die das Tier haben könnte. Fertig war das Doge-Meme.
     
  • Ein Standfoto der Webcam einer jungen Dame, auf dem sie ein etwas hysterisches Lachen zeigt. Dazu sich immer wandelnde Sätze, die darauf hindeuten, dass die Dame in Beziehungen zum „Klammern“ neigt“ – Overly attached girlfriend war geboren.
     
  • Das Bild eines brennenden Hauses, im Vordergrund ein kleines Mädchen, das in die Kamera lächelt, wodurch das Bild dem Zuschauer vermittelt, der Brand sei ihr Werk und sie sei zufrieden. Nun war das Netz um sein Disaster girl reicher.

Allerdings müssen Memes nicht nur aus Fotos oder überhaupt stillstehenden Motiven bestehen. Ein schönes Beispiel für beides ist der ROFLcopter*. Ein aus ASCII-Symbolen „gezeichneter“ Hubschrauber.

 

Durch die simple Technik des Bewegtbild-GIFs, bei dem zwei oder mehr Bilder übereinandergelegt und durch die Verwendung des GIF-Formats wie ein Miniatur-Videoclip animiert werden, entstand der Eindruck, dass sich Haupt- und Heckrotor des ROFLcopters drehen.

*ROFL steht für „Rolling on (the) floor laughing“, also sich lachend am Boden kringeln.

 

Gerade dieser Hubschrauber zeigt zudem einen wichtigen Verwendungszweck von Memes: Reaktionen. Jener erwähnte Ur-Sumpf der Memes waren Internetforen, Imageboards und dergleichen – es waren die Tage, bevor Facebook, WhatsApp und andere Soziale Netze bzw. Kurznachrichtendienste zu allesbestimmenden Plattformen wurden.  

 

Viele Memes entstanden nicht nur aus dem Wunsch heraus, simple grafische Kalauer zu posten, sondern auch Reaktionen auf die Posts anderer User. Statt einfach nur „LOL“ oder „ROFL“ zu antworten, begannen Nutzer, den ROFLcopter oder ähnlich gelagerte Memes zu verwenden – nach wie vor eine wichtige memetische Nutzung und ein abermaliger Beweis für die Memtheorie, da es sich hierbei um die „memolutionäre“ Weiterentwicklung der bereits zuvor existierenden Abkürzungen im Netzjargon handelt.

 

Eine Kunst, die nicht vom Können abstammt

Mittlerweile dürfte die Zahl allein der (zumindest unter regelmässigen Internetnutzern) mehr oder weniger geläufigen Memes in die Tausenden gehen – die Gesamtzahl lässt sich hingegen unmöglich beziffern. Schon früh entstanden Plattformen, die mit Bildern aktueller Memes (sogenannte Templates) bestückt waren und es jedem Nutzer ermöglichten, sie um eigenen Text zu ergänzen. Hinzu kamen in jüngerer Zeit Apps und nicht zuletzt die in vielen sozialen Netzen integrierte Funktion, mit GIFs zu antworten.

 

Just in dieser gigantischen Masse zeigt sich aber auch, warum Memes eine so unglaublich basisdemokratische Kunstform sind. Jeder kann sie anfertigen, es gibt quasi keine fähigkeits- oder hardwareseitigen Hürden; noch das simpelste Smartphone, das einfachste Laptop bringt alles mit, um Memes zu erstellen. Und wie bei jeder anderen Kunstform liegt die Schönheit vollkommen im Auge des Betrachters. Die grosse Masse der Memes bleibt kaum mehr als ein Bildchen, das durch einige wenige Chats wandert*. Andere indes erweisen sich als Renner, der sich rasend schnell um den Globus verbreitet – etwa jenes Bild eines äusserst entschlossen wirkenden kleinen Buben mit geballter Faust, der als Success Kid das Meme zum digitalen Feiern eigenen oder auch fremden Erfolgs wurde.

*Wird ein eigentlich erfolgloses Meme immer wieder gepostet, sodass es vielen geläufig wird, ohne jedoch nach den Prozessen des Netzes aus Beliebtheit viral zu werden, spricht der Fachmann von einem „Forced Meme“ – ein erzwungenes Meme

 

Ob und wie schnell ein Meme zum Erfolg wird, hängt einzig und allein davon ab, wie gut der Ersteller mit Bild, Text, der Kombination davon oder auch einfach nur einer möglichst kreativen Interpretation den Geschmack und auch den Zeitgeist trifft – und auch wenn viele Memes humorig sind, ist Witzigkeit keine zwingende Eigenheit von Memes; das gilt einzig für Kreativität und ein „Treffen des richtigen Tons“. 

 

Ein Hort digitaler Freiheit, der sich nicht vereinnahmen lässt

Viele Menschen, die die Frühzeiten des Internets und seiner Kultur miterlebten oder gar mitgestalteten, kritisieren das heutige Internet. Vor allem deshalb, weil sehr vieles, was früher frei und unreguliert war, längst vereinnahmt, reguliert und/oder monetär exploriert wurde:

  • Foren gibt es zwar noch, wurden aber weltweit vor allem durch Facebook an den Rand gedrängt.
     
  • Vlogger und Blogger wurden von „Usern, die für User Informationen liefern“ zu Influencern und somit einer enorm profitträchtigen und von vielen als perfide kritisierten Marketingform.
     
  • Der freiheitlich-digitale Meinungspluralismus wird immer wieder ausgenutzt, um Stimmungen zu beeinflussen – vor allem in politischer Hinsicht.

Internetpionier und selfhtml-Gründer Stefan Münz fasste es kürzlich auf seinem Blog zusammen:

„Wenn es denn so etwas wie Sargnägel für das Web gibt,
dann sind es wohl eher die grossen, milliardenschweren Plattformen,
welche den Rest des Web genauso ausgeblutet haben, wie es in manchen
Ländern einige wenige Megastädte mit dem gesamten restlichen Land tun“

 

Doch so richtig dies an vielen Stellen sein mag, das Meme erweist sich als äusserst resistent. Nicht dass es keine Versuche gegeben hätte, diese Kunstform ähnlich zu vereinnahmen; tatsächlich scheitern jedoch kommerzielle Memes in schöner Regelmässigkeit an den Hürden des Netzes und werden selbst von weniger netzaffinen Menschen als Forced Meme erkannt und abgelehnt.

 

Für manche sind Memes deshalb der einzig verbliebene Hort jener Freiheit, die das frühe Internet bedeutete und jedem versprach. Vielleicht ist das auch das Geheimnis, warum diese Kunstform sich in ihrem Kern seit über 20 Jahren, ungleich zu den allermeisten anderen Netzinhalten, kaum wandelte – bloss ganz so, wie es Richard Dawsons Theorie postulierte, ständige Evolution erfährt.

 

[i] Die Recherche und Erstellung des Textes wurden durch einen externen Redaktor vorgenommen und stammen nicht aus der eigenen Redaktion.


Autor:in
pd, info@bern-ost.ch
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Erstellt: 18.06.2020
Geändert: 27.08.2020
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