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Münsingen - Der Mythos vom gelben Wägeli

Quelle
Berner Zeitung BZ

In einem Museum in der Romandie steht ein Krankenwagen mit gelbem Anstrich. Er soll das ominöse gelbe Wägeli sein, das früher Patienten in die Klinik Münsingen brachte. Kann das stimmen?

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Irrenanstalt Münsingen um 1900: Transportierte früher ein gelbes Wägeli Patienten in die Klinik? (Bild: Sammlung Museum Schloss Münsingen/zvg)
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Roland Baur: «Wahnsinnig, dass das gelbe Wägeli existiert.» (Bild: Andreas Blatter)
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Wagen in La Sarraz: Oben schwarz, unten gelb. (Bild: zvg)
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Diese Geschichte beginnt im Frühsommer im lauschigen Park des Psychiatriezentrums Münsingen (PZM). Roland Baur sitzt in einem kleinen Pavillon und strahlt übers ganze Gesicht. «Es ist einfach wahnsinnig, dass es das gelbe Wägeli gibt», sagt er. «Bis jetzt war es einfach ein Märchen, ein Mythos. Aber es existiert wirklich.»

Baur arbeitet seit 28 Jahren am PZM, erst als Pfleger, jetzt als Betreuer. Wie viele andere Menschen hat auch er als Kind immer wieder die Drohung gehört: «We du nid Ornig hesch, holt di ds gälbe Wägeli!» Dieses würde ihn in die psychiatrische Klinik Münsingen fahren. «Fragen Sie im Kanton herum, viele kennen diese Geschichte», sagt er.

Aber nur wenige haben das Wägeli schon gesehen. Im Fall von Baur ist es ein paar Jahre her. Eigentlich wollte er schon damals der Zeitung davon erzählen. Aber wie es so geht: Es kam einiges dazwischen, das Wägeli geriet in Vergessenheit. Bis jetzt.

Vor den Sommerferien wählt Baur die Nummer der Zeitungsredaktion. Am Ende dieses Jahres werde die psychiatrische Klinik privatisiert. «Das dünkt mich ein guter Zeitpunkt, um zu erzählen, dass es das Wägeli wirklich gibt», sagt Baur. Er lässt sich vom Fotografen ablichten und berichtet von seiner Entdeckung.

Es ist eine schöne Geschichte, aber es gibt ein Problem. Zwar hat Baur das gelbe Wägeli mit eigenen Augen gesehen und kennt es vom Hörensagen. Aber mehr weiss er nicht darüber.

Fragen bleiben offen. Kann es wirklich so gewesen sein, dass ein Wägeli geistig kranke Menschen einsammelte und in die Kantonale Irrenanstalt fuhr, wie sie früher hiess? Wie lief das ab?

Die Suche nach den Antworten beginnt in einer finsteren Scheune in La Sarraz, Kanton Waadt.

Das Wägeli, das im Pferdemuseum steht

Gleich beim Eingang sieht man das Wägeli von vorne. Der Sitz des Kutschers, die Holzwand, ein Fenster, die Aufschrift: «Krankenwagen Münsingen». Noch ein paar Schritte, dann die Kasse, die Frau verlangt 8 Franken. Willkommen im Pferdemuseum.

Der Rundgang beginnt mit ein paar Bildern und Texten, dann geht eine Treppe nach unten. Da steht es wieder. Das Wägeli ist schwarz und gelb bemalt, die Räder gelb. Die beiden Flügeltüren stehen offen, sie geben den Blick frei auf die Inneneinrichtung: eine Sitzbank, eine Trage, ein weisses Kissen. Und daneben, etwas versteckt, der Hinweis: «Ambulance de la clinique psychiatrique de Münsingen. Construite par Carl Bieri à Berne en 1900.»

Das gelbe Wägeli von Münsingen. Kann das wirklich sein?

Nur wenig Licht fällt in die Scheune und auf die alten Wagen, Bilder und Tafeln. Es ist ruhig, andere Besucher sind heute keine da. Die Frau an der Kasse liest ein Buch. Weiss sie vielleicht mehr darüber? «Non», sagt sie, und blättert weiter.

Am Telefon kann dann auch Museumsleiter Robert Chanson nicht weiterhelfen. Aber es ist klar: Im Pferdemuseum befindet sich das Wägeli, das auch Roland Baur entdeckt hat. Das war im Jahr 2010.

Als Teil der Redaktion der PZM-Hauszeitung unternahm Baur einen Ausflug nach La Sarraz. Dort sah die Reisegruppe aus Münsingen das Gefährt eingeklemmt zwischen den anderen Objekten stehen. Auch erfuhr sie, dass es eine Leihgabe der Eidgenössischen Militärpferdeanstalt sei, der Vorgängerin des heutigen Nationalen Pferdezentrums Bern (NPZ).

Die Redaktoren der Klinikzeitung wandten sich ans NPZ und erhielten eine Antwort: «Es handelt sich tatsächlich um das gelbe Wägeli», schrieb eine Angestellte. Zum Beweis hängte sie ein paar Seiten aus einem Buch an: «Geschirre und Wagen» von Carl Hildebrandt.

Die Freude im Redaktionsteam war gross. Es war geplant, dass in der «PZM-Zytig» ein Artikel erscheint. So weit ist es aber nie gekommen.

Das Buch, das die Details über das Wägeli kennt

Weiss das NPZ heute womöglich mehr über das Wägeli als vor fünf Jahren? Anfrage per Mail. Die Direktorin heisst Salome Wägeli. Die Antwort kommt aber von Bereichsleiter Beat Wampfler – er verweist auf Hildebrandts Buch.

Es ist ein gewichtiges Werk, «eine Sammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft», zwei Berner Politiker steuerten beim Erscheinen 2004 Geleitworte bei: FDP-Regierungsrätin Dora Andres und SVP-Bundesrat Samuel Schmid.

Die Seiten 246 und 247 zeigen das Bild des Wagens aus La Sarraz. Auf Seite 248 ein weiteres Bild: «Innenansicht des Krankenwagens: Bett mit Kurbel zum Hochstellen der Kopfseite. Rechts an der Wand und stirnseitig Sitze für das Pflegepersonal.»

Seite 249, der Autor schreibt: «Der Wagen der psychiatrischen Klinik Münsingen – im Volksmund ‹ds gälbe Wägeli› genannt – diente dem Transport von Patienten, die darin mehrstündige Reisen zu überstehen hatten. Im Innern des Wagens fanden zwei Pfleger Platz, die durch das Fenster Kontakt zum Kutscher hatten, wenn dieser aus einem bestimmten Grund anhalten musste.»

Das sind neue Informationen. Woher Hildebrandt sie hat?

Die Spur zum Autor führt über das Schweizerische Armeemuseum in Thun, in dessen Verlag mehrere Bücher Hildebrandts erschienen sind. Henri Habegger, Vizepräsident des Museums, sagt: «Es ist leider nicht möglich, mit Herrn Hildebrandt zu sprechen.» Hildebrandt sei ein älterer Herr und äussere sich trotz regelmässiger Anfragen nicht mehr in der Öffentlichkeit.

Habegger fragt aber selbst nach und übermittelt dann die Antwort: Hildebrandt könne sich nicht mehr erinnern, woher er die Informationen habe.

Wo soll die Suche weitergehen? Zunächst im Schweizerischen Psychiatriemuseum bei der Waldau in Bern. Dort erhalten Besucher zuerst eine kurze persönliche Einführung vom Aufseher und dann in der Ausstellung eine Fülle von Informationen über das Psychiatriewesen in der Schweiz und im Kanton Bern. Was fehlt: ein Hinweis aufs Wägeli.

Nachfrage beim Aufseher. Er heisst Martin Sauser und bestätigt, dass er den Ausdruck im Zusammenhang mit Münsingen kenne. Er meint, schon einmal etwas darüber gelesen zu haben – er müsse daheim nachsehen. Am Abend schickt er eine Mail. Er habe tatsächlich etwas gefunden, «leider nur sehr wenig», und zwar in einem Führer der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte über das PZM aus dem Jahr 2009.

Darin schreibt der Münsinger Lokalhistoriker Hans Maurer: «Der recht geläufige Ausdruck vom ‹gelben Wägeli›, das Spinner hole und in die Anstalt bringe, galt und gilt nicht nur für Münsingen. Entstanden sei der Ausdruck 1897 als Bezeichnung für einen Pferdekrankentransportwagen.»

Mehr ist da nicht. Und Maurer kann man nicht mehr fragen. Anfang Jahr ist er kurz vor seinem 85. Geburtstag gestorben.

Der Historiker, der eine andere Geschichte erzählt

Aber gibt es nicht weitere Münsinger, die das Wägeli kennen müssten, falls es kein Hirngespinst ist? Zum Beispiel Hans Rudolf Moser, von 1942 bis 1949 in der Klinik aufgewachsen, sein Vater war Oberpfleger. Moser sagt: «Man hat vom Wägeli geredet, aber ich habe es nie gesehen.»

Oder Alfred Schranz, Jahrgang 1939, einst Leiter Pflege und Mitglied der Direktion in Münsingen. Schranz sagt, er kenne die Geschichte des Psychiatriezentrums aus dem Effeff. «In all den alten Dokumenten ist mir aber nie ein gelbes Wägeli begegnet.» Übrigens sei er im Berner Jura aufgewachsen. «Da war das gelbe Wägeli auch ein Schimpfwort, aber es gehörte zur Klinik in Bellelay.»

Oder Christine Hirt, ehemalige Archivarin des PZM. Hirt sagt: «Ich bin gar nicht sicher, dass es das gelbe Wägeli gegeben hat.»

Und was sagt eigentlich Mike Sutter? Er ist Kommunikationschef der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern, war früher in gleicher Funktion am PZM tätig und hat 2010 den Ausflug nach La Sarraz mitgemacht. «Wir waren überzeugt, dass es sich um das gelbe Wägeli handelt», sagt Sutter. Er glaube noch heute daran – es sei denn, um 1900 hätte schon das Spital Münsingen existiert. Da war das Wägeli gebaut worden. Wenn nicht für die Anstalt, vielleicht für das Spital?

Um diese Frage zu klären, genügt ein Blick ins Buch «Münsingen – Geschichte und Geschichten» von 2010. Wieder stösst man auf den Namen Hans Maurer. Er schreibt, dass 1879 eine Krankenstube eröffnet und 1891 das erste Spital gebaut wurde.

Und dann erzählt er eine ganz andere Geschichte des Wägeli von La Sarraz.

Der Wagen, gebaut von Carl Bieri, habe 2000 Franken gekostet und sei im Oktober 1900 in Betrieb genommen worden. «Im ersten Jahr wurde er dreimal, später durchschnittlich zehnmal jährlich benutzt, je nach Wegverhältnissen gezogen von einem oder zwei Pferden.»

Maurer schreibt: Der Wagen gehörte dem Freiwilligen Krankenhilfsverein. Dieser gehörte zur Kirchgemeinde. Diese wiederum war Trägerin des Spitals. In den 1920er-Jahren ging der Krankenwagen ans Spital über.

Davon, dass er zur psychiatrischen Anstalt gehört haben könnte, steht kein Wort.

Der Mythos, den auch Friedrich Glauser befeuerte

Damit steht fest: Der Wagen in La Sarraz ist nicht das gelbe Wägeli. Bleibt die Frage: Existierte es überhaupt? Sarah Pfister, Leiterin des Museums Münsingen, sagt: «Wir haben das erforscht. Es ist historisch nicht belegt, dass die Klinik mit einem Wagen Patienten transportiert hat. Schon gar nicht mit einem gelben.» Allerdings kennt Pfister ein Wägeli, das im Zusammenhang mit der Klinik steht. Friedrich Glauser, einst Patient in Münsingen, habe es im Krimi «Matto regiert» beschrieben. Er nannte es den «Randlinger Blitzzug»: Eine «Zweiräderbänne» mit Kette und Querhölzern, die von sechs Männern gezogen wurde. Daher stamme wohl der Mythos vom Wägeli.

Zurück im PZM, zurück bei Roland Baur, der das gelbe Wägeli mit eigenen Augen gesehen hat. Was sagt er? «Wenn ein Mythos ein Ende findet, dann ist auch die Geschichte zu Ende.» Er werde für immer die Worte im Ohr haben: «We du nid Ornig hesch, holt di ds gälbe Wägeli!»

Damit geht diese Geschichte mit der Gewissheit zu Ende: Das gelbe Wägeli gehört ins Reich der Fantasie, aber nicht in ein Museum.


Autor:in
Johannes Reichen, Berner Oberländer/Thuner Tagblatt
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Erstellt: 01.10.2016
Geändert: 01.10.2016
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