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Samuel Wittwer: «Direkter Spott würde mich treffen, aber ich wäre parat!»
Samuel Wittwer, der parteilose Gemeindepräsident von Landiswil erzählt, wie er zur Politik kam, was sich in seinem Dorf verändert hat, und ob er seinen Partner heiraten wird, jetzt wo er könnte.
BERN-OST: Samuel Wittwer, wie kamen Sie zur Politik?
Samuel Wittwer: Ich war schon immer politisch interessiert, aber eher national oder international. Das war in der Gemeinde bekannt und ich wurde für den Gemeinderat angefragt. Beim ersten Mal sagte ich noch Nein, vier Jahre später Ja. Es kam zu einer Kampfwahl, ich dachte, ich werde haushoch verlieren, dann habe ich aber deutlich gewonnen.
Wo ordnen Sie sich politisch ein?
Ich kann mich mit keiner Partei 100 Prozent identifizieren und habe nicht gern Extremismus. In alle Richtungen. Rechtsextremismus und Populismus finde ich schlimm und gefährlich, aber auch links gibt es zum Teil überrissene Forderungen, frei nach dem Giesskannenprinzip.
Sie sind seit mehr als 15 Jahren im Gemeinderat, davon elf als Gemeindepräsident. Wird das nicht langweilig?
Im Gegenteil. Man wächst rein, aber langweilig ist es nie. Man denkt immer ‚Jetzt ist etwas abgeschlossen‘, und dann kommt das nächste. Es läuft immer etwas: neue Geschäfte, Veränderungen im Gemeinderat oder der Verwaltung, man sieht in wahnsinnig viel rein in der Gemeinde, in der Region, im Kanton.
Welches waren die wichtigsten Projekte?
Da gab es Verschiedenes. Die Reformen in der Bildung, also der Zusammenschluss mit Arni bei der Schule. Dann der Infrastrukturvertrag mit der Kiesgrube Kratzmatt, wovon jetzt alle profitieren. Die Ortsplanung ist auch unter Dach, da konnten wir etwas Bauland einzonen. Und natürlich der Wärmeverbund, der diesen Herbst in Betrieb gehen wird.
Was waren die prägendsten Erlebnisse in diesen Jahren für Sie persönlich, im positiven wie im negativen?
Das positivste war die Wahl zum Gemeindepräsidenten. Das negativste war wohl die Ablehnung des Wegreglements 2019.
Worum ging es da?
Landiswil hat ein uraltes Wegreglement, wo oft nicht klar ist, ob etwas privat ist oder von der Gemeinde. Es ist zum Teil auch ungerecht. Wir wollten das Reglement auf eine neue Ebene stellen. Viele hätten da profitiert, einige wenige verloren, und die haben mobilisiert und das Ganze relativ knapp "gebodigt". Wir arbeiten jetzt an einer neuen Variante. Es gibt einen Hoffnungsschimmer, dass das durchkommt.
Was sind sonst die grössten Herausforderungen für eine kleine Gemeinde wie Landiswil?
Nebst den Strassen und der Schule, den Wohnraum zu erhalten und neuen zu schaffen in diesem Dorf mit landwirtschaftlicher Prägung. Dazu gehört auch der Kampf gegen die Abwanderung, den Erhalt vom ÖV, die Finanzen. Dass wir keine Schlafgemeinde werden. Und schauen, dass es auch weitergeht, wenn gestandene Leute wie unsere Gemeindeschreiberin oder ich weggehen. Es wird nicht einfach sein, die Dienstleitungen auf der Verwaltung so zu erhalten, wie heute. Das macht mir Respekt und ich fühle mich mitverantwortlich, dass es weitergeht.
Wie würden Sie die Atmosphäre oder die Stimmung in Landiswil beschreiben?
Friedlich, ruhig, man grüsst sich, man hilft einander und lässt einander leben. Ich würde sagen, der soziale Zusammenhalt ist relativ intakt, jedenfalls unter den Einheimischen, die hier geboren sind. Die neu Zugezogenen und die ganz Jungen gehen weniger raus, an Feste oder in Vereine.
In Landiswil leben (Stand Ende 2022) 615 Leute. Kennen Sie alle mit Namen?
Einen sehr grossen Teil. Früher habe ich alle gekannt, das verändert sich. Man sieht sich auch weniger auf der Strasse als früher, als es noch eine Post, fünf Läden und drei Käsereien gab.
1850 lebten 1‘021 Menschen in Landiswil, im Jahr 2000 noch 673 und heute 615. Warum werden sie weniger?
Es ist eine allgemeine Erscheinung, dass die Familien kleiner werden, man hat weniger Kinder. Wir sassen als Kind noch zu zehnt am Esstisch, heute lebt mein Bruder im Elternhaus noch zu zweit. Aber manchmal frage ich mich schon, wo diese über 1000 Leute eigentlich lebten.
Sie sind in Landiswil geboren?
Ja, als Bauernsohn, mit vier Brüdern, und ich habe immer hier gelebt. 1982 bin ich in den Längacher gezogen, Anfang 90er Jahre habe ich das Haus erworben. Ich bin aber nach Biglen in die Sek, unter anderem, weil ich wegen meiner roten Haare gemobbt wurde. Biglen war zuerst ein Schock, ich fühlte mich entwurzelt und dachte, ich sei der altmodischste von allen. Wir hatten zuhause ein Plumpsklo und kein Badezimmer, die Mutter ein «Bürzi»… Bis ich dann merkte, dass es auch noch andere gibt, die so leben. Da ging bei mir ein Knopf auf und die Sekzeit wurde eine sehr prägende Zeit. Wir waren eine super Klasse und für mich war es das Paradies.
Was hat sich in Landiswil verändert, seit Sie sich erinnern können?
Man trifft die Leute viel weniger, weil es alles nicht mehr hat: Post, Chäsi, Laden… Dafür wurde die Infrastruktur besser: Die Strassen wurden besser, das Poschi fährt fleissiger und fast alle Häuser haben schnelles Internet. Wichtig ist das Mehrzweckgebäude, wo Konzerte und andere Vereinsanlässe stattfinden. Vielleicht auch als Ersatz für die anderen Treffpunkte, die wegfielen. Zudem hat es mehr Verkehr, das kann ich an der Kantonsstrasse gut beobachten. Was bleibt, ist dass man in Landiswil oft bei gewissen Themen eher konservativ denkt, das deckt sich nicht immer mit meiner persönlichen Haltung.
Sie leben mit einem Mann zusammen. Wie fest war das Thema in Landiswil, etwa bei der Wahl in den Gemeinderat oder als Gemeindepräsident?
Ich hatte immer Angst, dass es ein Riesenthema werden könnte. Aber dann war mein Konkurrent bei der Gemeinderatswahl einer aus der Musik, die in Landiswil eine wichtige Rolle spielt, und ich der, der gleichgeschlechtlich liebt. Zwar trage ich dazu kein Plakat vor mir her, aber man weiss es. Und dann wurde ich doch gewählt.
Mich hat das Thema sicher mitpolitisiert. Als ich merkte, dass meine sexuelle Orientierung nicht anerkannt ist, hat einen das dazu gebracht, zu kämpfen. Das hat sich dann auch ausgebreitet, dass ich immer, auch bei anderen Themen, gegen Ausgrenzung und Unterdrückung bin. Da gibt es auch Entwicklungen, weltweit, die mir Angst machen, etwa in den USA, wo die Abtreibungsrechte, Minderheitenschutz und Umweltschutz beschnitten werden, im Land der Freiheit.
Mit wie alt haben Sie sich geoutet?
Bei der Familie mit 26 Jahren. In der Sekundarschule habe ich es schon mit 15 oder 16 Jahren einem Kollegen erzählt, das war sehr gut für mich. Danach blieb ich aber lange still, war hie und da heimlich verliebt.
Landiswil hat 2021 die Vorlage «Ehe für alle» angenommen, obwohl die ländlichen Gemeinden rundherum eher Nein gesagt haben. Wie war das für Sie?
Das hat mich stolz gemacht und sehr gefreut und ich habe mich gefragt, ob ich dabei vielleicht auch eine kleine Rolle gespielt habe. Ich freue mich auch, dass es mittlerweile mehrere sichtbare gleichgeschlechtliche Paare gibt im Dorf. Da hat sich etwas positiv verändert. Spott gibt es leider immer noch.
Direkten Spott?
Direkt nicht, nein. Das würde mich zwar treffen, aber ich wäre parat mit meinem Kampfgeist. Ich freue mich auch immer über andere, die offen schwul leben. Zum Beispiel Personen des öffentlichen Lebens, oder auch der Schwinger Curdin Orlik.
Haben Sie Ihren Partner nach der Abstimmung geheiratet?
Noch nicht, nein. Es ist nicht ausgeschlossen, wir sind seit zwölf Jahren zusammen. Aber es gibt davor noch einiges zu regeln.
Hatten Sie nie den Wunsch, in die Stadt zu ziehen?
Doch, so eine Zeit gab es schon. Mit einem gewissen Fernweh und der Sehnsucht nach der Kultur und persönlichen Freiheit in der Stadt. Man ist weniger beobachtet. Eine Weile war Kalifornien ein Ort, von dem ich träumte. Das Leben in San Francisco. Das verging aber mit der Zeit. Ich bin in die hiesige Geschäftswelt eingestiegen, dann kamen politische Ämter, ich war in der Schulkommission und in der Steuerkommission. Was ich mit 80 oder 90 Jahren mache, weiss ich nicht, die Gesundheit ist das Wichtigste. Aber es gefällt mir sehr in Landiswil und ich habe die Leute gern – mit allen Facetten.
So sehr, dass sie nun noch einmal für vier Jahre Gemeindepräsident werden wollen.
Ja. Man kann mir vorwerfen, dass ich ein Sesselkleber bin. Aber es gibt Projekte, die ich noch weiterverfolgen will. Wir sind im Gemeinderat zurzeit ein gutes Team, wo alle weitermachen wollen. Ich habe gespürt, dass da mein Weitermachen auch begrüsst wird. Ich hätte auch loslassen können, ohne in ein Loch zu fallen. Etwa wenn jemand aus dem Gemeinderat hätte übernehmen wollen. Ich hätte so auch mehr Freiheiten. Aber: Gewählt bin ich ja noch nicht, die Wahl ist erst an der Gemeindeversammlung im Herbst.
Erstellt:
23.07.2023
Geändert: 23.07.2023
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