Stettlen - Deisswiler nicht stillgelegt
Der Künstler Mark Fels und Arbeiter der Karton Deisswil eröffnen heute in den Hallen der Fabrik eine Ausstellung. Das kulturelle Projekt hat die Arbeitskollegen nach der abrupten Schliessung wieder zusammengebracht.
«Die Fabrik ist wie eine zweite Familie. Dass die jetzt auseinander bricht – das ist eigentlich das Traurigste.» Die Stimme gehört einem Schichtwerkführer der Karton Deisswil. Seine Worte hallen in den Räumen des weitgehend geräumten Speditionslagers nach. Vor den abgenutzten Betonwänden hängen 48 Kartonschablonen. Aus einem Raster sind die Porträts der Menschen ausgeschnitten, die als Fabrikarbeiter um ihre Stelle und Zukunft bangen. Eines zeigt auch den Schichtwerkführer.
Zurück an die Arbeit
In der einst geschäftigen Fabrikhalle hat der Künstler Mark Fels aus Ostermundigen mit Arbeitern aus Deisswil kurzfristig eine Ausstellung gestaltet. Er projiziert durch Kartonschablonen die Gesichter betroffenen Arbeiter an die Wände und spielt über Lautsprecher ihre Stimmen ab.
«Als ich am 11. April von der Schliessung der Fabrik vernahm, wollte ich etwas für die Arbeiter tun», sagt Fels. Mit der Ausstellung hat er dieses Ziel erreicht. Denn ein Teil der 255 Beschäftigten hat sich so zwei Wochen nach Bekanntwerden der Schliessung wieder im Kreise der Kollegen zur Arbeit eingefunden. Sie haben selbst Hand angelegt, ihre Rasterfotografien ausgeschnitten, und die Ausstellung mit auf die Beine gestellt. «Wir haben hier täglich fast länger gearbeitet als bei unseren Schichten in der Produktion», scherzt Patric Hofstetter. Der 26-Jährige hat fünf Jahre in Deisswil gearbeitet und gehört nun zum Kern des Ausstellungsteams.
«Besser als die Faust im Sack»
«Nach dem Schliessungsentscheid waren viele erst einmal am Boden zerstört. Die Arbeit an der Ausstellung war für sie ein wichtiger Prozess», sagt Jürg Rupp, Maschinenarbeiter und Mitglied der Deisswiler Betriebskommission. Bei der Arbeit habe man miteinander gesprochen, einander das Herz ausgeschüttet. «Das ist viel besser als zu Hause die Faust im Sack zu machen», sagt er. Mit ihrem Projekt wollen Künstler Arbeiter an die Schicksale der Betroffenen erinnern: «Es geht um Menschen, nicht einfach um eine anonyme Manipuliermasse, um Human Resources», steht im Prospekt zur Ausstellung.
«Vom Schichtarbeiter bis zum Werkführer. Es sind alle hier vertreten», sagt Mark Fels beim Gang durch die Hallen. Helle Lampen werfen die Schatten der Schablonen auf die Mauern. Die Gesichter der Arbeiter sind nur aus einigem Abstand zu erkennen. «Diese Fabrik ist ihre Identität», kommentiert Fels. Insofern sei es passend, dass ihre Porträts von den Betonwänden schauen. Wohl das Wichtigste sei aber gewesen, dass die Kollegen mit ihrem eigenen Werkstoff, dem Karton, arbeiten konnten.
Man steht und hält zusammen
«In dieses Projekt ist das Herzblut der ‘Büezer’ eingeflossen», sagt Rupp. Die Arbeiter seien mit erstaunlichem Engagement bei der Sache gewesen. Brauchte es Verstärkung, stand sie innert weniger Minuten in der Fabrikhalle. Damit ist mit der Ausstellung wieder einiges so geworden, wie es vor dem 8. April, dem Tag der Schliessung, war. «In Deisswil steht und hält man zusammen», sagt Rupp.
Diesen Geist hat auch der Künstler gespürt. Anfängliche Vorbehalte, dass man ihn als Künstler missverstehen könnte, der sich mit dem Leid anderer profilieren wolle, hätten sich nicht bewahrheitet, sagt Fels. «Stattdessen bin ich ein Teil von ihnen geworden. Das hat mich sehr berührt.»
Die Ausstellungsmacher hoffen auf rege Teilnahme an der Eröffnung und appelieren an die Solidarität der Bevölkerung. Schon darauf hin hat sich diese ein weiteres Mal manifestiert. Betriebe aus der Region und der Gewerbeverein von Stettlen unterstützen das Projekt. Sie sind kurzfristig für die Lieferung von Speis und Trank zur Vernissage eingesprungen und liefern zum Einstandspreis. Das Echo auf die Entwicklung in Deisswil ist seit Wochen gross.
Festhalten am Strohhalm
An der Vernissage heute Abend drehen die Kartonarbeiter den Spiess für einmal um. Sie geben der Bevölkerung die Möglichkeit, sich zur Schliessung zu äussern. Ein offenes Mikrofon ist für Angehörige und Anwohner da, die sich «Gehör oder Luft verschaffen wollen», wie Patric Hofstetter sagt. «Wir wollen die Öffentlichkeit mit einbeziehen», sagt er. Die Fabrik ist während der Ausstellung erstmals für Ausssenstehende zugänglich. Anfängliche Sicherheitsbedenken haben die Arbeiter im Gespräch mit der Geschäftsleitung ausgeräumt.
Die Ausstellung sei im Zusammenhang der anderen Aktionen zu Gunsten der Fabrik und der Angestellten entstanden, sagt Fels. Die kulturelle Verarbeitung ist ein Protest gegen die Schliessung, aber ein friedlicher. Sie reihe sich ein als nächster Schritt nach der Demonstration auf dem Fabrikgelände und der Reise nach Wien am Mittwoch. Der Vorstandsvorsitzende des Meyr-Melnhof-Konzerns Wilhelm Hörmanseder hat dort den Schliessungsentscheid bestätigt («Bund» von gestern). Trotzdem habe sich die Reise gelohnt, sagen Arbeiter. Dass sie mit dem Konzernchef sprechen konnten und dieser auch noch nach Deisswil kommen wird, sei ein Erfolg, der die Erwartungen übertroffen habe. «Für uns ist das ein Strohhalm», sagt Rupp. «Und ich spreche wohl allen Arbeitern aus dem Herzen, wenn ich sage: wir halten uns an jeder noch so kleinen Hoffnung fest.»
«Karton im Saal», Die Ausstellung der Fabrikarbeiter der Karton Deisswil in Zusammenarbeit mit Mark Fels, ist vom 1. bis 9. Mai jeweils von 14 bis 19 Uhr in der Kartonfabrik zu besichtigen. Die Vernissage findet heute Freitagabend, ab 18 Uhr statt.
www.klagekarton.ch
Matthias Raaflaub, "Der Bund"
Zurück an die Arbeit
In der einst geschäftigen Fabrikhalle hat der Künstler Mark Fels aus Ostermundigen mit Arbeitern aus Deisswil kurzfristig eine Ausstellung gestaltet. Er projiziert durch Kartonschablonen die Gesichter betroffenen Arbeiter an die Wände und spielt über Lautsprecher ihre Stimmen ab.
«Als ich am 11. April von der Schliessung der Fabrik vernahm, wollte ich etwas für die Arbeiter tun», sagt Fels. Mit der Ausstellung hat er dieses Ziel erreicht. Denn ein Teil der 255 Beschäftigten hat sich so zwei Wochen nach Bekanntwerden der Schliessung wieder im Kreise der Kollegen zur Arbeit eingefunden. Sie haben selbst Hand angelegt, ihre Rasterfotografien ausgeschnitten, und die Ausstellung mit auf die Beine gestellt. «Wir haben hier täglich fast länger gearbeitet als bei unseren Schichten in der Produktion», scherzt Patric Hofstetter. Der 26-Jährige hat fünf Jahre in Deisswil gearbeitet und gehört nun zum Kern des Ausstellungsteams.
«Besser als die Faust im Sack»
«Nach dem Schliessungsentscheid waren viele erst einmal am Boden zerstört. Die Arbeit an der Ausstellung war für sie ein wichtiger Prozess», sagt Jürg Rupp, Maschinenarbeiter und Mitglied der Deisswiler Betriebskommission. Bei der Arbeit habe man miteinander gesprochen, einander das Herz ausgeschüttet. «Das ist viel besser als zu Hause die Faust im Sack zu machen», sagt er. Mit ihrem Projekt wollen Künstler Arbeiter an die Schicksale der Betroffenen erinnern: «Es geht um Menschen, nicht einfach um eine anonyme Manipuliermasse, um Human Resources», steht im Prospekt zur Ausstellung.
«Vom Schichtarbeiter bis zum Werkführer. Es sind alle hier vertreten», sagt Mark Fels beim Gang durch die Hallen. Helle Lampen werfen die Schatten der Schablonen auf die Mauern. Die Gesichter der Arbeiter sind nur aus einigem Abstand zu erkennen. «Diese Fabrik ist ihre Identität», kommentiert Fels. Insofern sei es passend, dass ihre Porträts von den Betonwänden schauen. Wohl das Wichtigste sei aber gewesen, dass die Kollegen mit ihrem eigenen Werkstoff, dem Karton, arbeiten konnten.
Man steht und hält zusammen
«In dieses Projekt ist das Herzblut der ‘Büezer’ eingeflossen», sagt Rupp. Die Arbeiter seien mit erstaunlichem Engagement bei der Sache gewesen. Brauchte es Verstärkung, stand sie innert weniger Minuten in der Fabrikhalle. Damit ist mit der Ausstellung wieder einiges so geworden, wie es vor dem 8. April, dem Tag der Schliessung, war. «In Deisswil steht und hält man zusammen», sagt Rupp.
Diesen Geist hat auch der Künstler gespürt. Anfängliche Vorbehalte, dass man ihn als Künstler missverstehen könnte, der sich mit dem Leid anderer profilieren wolle, hätten sich nicht bewahrheitet, sagt Fels. «Stattdessen bin ich ein Teil von ihnen geworden. Das hat mich sehr berührt.»
Die Ausstellungsmacher hoffen auf rege Teilnahme an der Eröffnung und appelieren an die Solidarität der Bevölkerung. Schon darauf hin hat sich diese ein weiteres Mal manifestiert. Betriebe aus der Region und der Gewerbeverein von Stettlen unterstützen das Projekt. Sie sind kurzfristig für die Lieferung von Speis und Trank zur Vernissage eingesprungen und liefern zum Einstandspreis. Das Echo auf die Entwicklung in Deisswil ist seit Wochen gross.
Festhalten am Strohhalm
An der Vernissage heute Abend drehen die Kartonarbeiter den Spiess für einmal um. Sie geben der Bevölkerung die Möglichkeit, sich zur Schliessung zu äussern. Ein offenes Mikrofon ist für Angehörige und Anwohner da, die sich «Gehör oder Luft verschaffen wollen», wie Patric Hofstetter sagt. «Wir wollen die Öffentlichkeit mit einbeziehen», sagt er. Die Fabrik ist während der Ausstellung erstmals für Ausssenstehende zugänglich. Anfängliche Sicherheitsbedenken haben die Arbeiter im Gespräch mit der Geschäftsleitung ausgeräumt.
Die Ausstellung sei im Zusammenhang der anderen Aktionen zu Gunsten der Fabrik und der Angestellten entstanden, sagt Fels. Die kulturelle Verarbeitung ist ein Protest gegen die Schliessung, aber ein friedlicher. Sie reihe sich ein als nächster Schritt nach der Demonstration auf dem Fabrikgelände und der Reise nach Wien am Mittwoch. Der Vorstandsvorsitzende des Meyr-Melnhof-Konzerns Wilhelm Hörmanseder hat dort den Schliessungsentscheid bestätigt («Bund» von gestern). Trotzdem habe sich die Reise gelohnt, sagen Arbeiter. Dass sie mit dem Konzernchef sprechen konnten und dieser auch noch nach Deisswil kommen wird, sei ein Erfolg, der die Erwartungen übertroffen habe. «Für uns ist das ein Strohhalm», sagt Rupp. «Und ich spreche wohl allen Arbeitern aus dem Herzen, wenn ich sage: wir halten uns an jeder noch so kleinen Hoffnung fest.»
«Karton im Saal», Die Ausstellung der Fabrikarbeiter der Karton Deisswil in Zusammenarbeit mit Mark Fels, ist vom 1. bis 9. Mai jeweils von 14 bis 19 Uhr in der Kartonfabrik zu besichtigen. Die Vernissage findet heute Freitagabend, ab 18 Uhr statt.
www.klagekarton.ch
Matthias Raaflaub, "Der Bund"