Unbekannte Geschichten aus Rubigen: Das Dorforiginal Rüedu Dummermuth
Bis in die Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts waren die Lebensverhältnisse vieler Rubigerinnen und Rubiger mittelalterlich, vor allem in älteren Bauernhäusern. Symbolisch für dieses spätmittelalterliche Rubigen stand der bärtige, bärenstarke, unentwegt „Schigg“ kauende, laut fluchende, aber eigentlich stets gutmütige Landwirt Rudolf „Rüedu“ Dummermuth.
Im Jahr 2011 schrieb ich als damaliger Worber in der Rubiger SP-Zeitung „Rubikrat“ eine Gast-Kolumne über das mittelalterliche Rubigen, das ich in den Fünfziger, Sechziger und Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Jugendlicher erlebt hatte: «Damals lebte ich in zwei Welten. Die eine, die völlig neue Welt am Gymnasium und an der Uni in Bern wehte rebellischer Achtundsechziger Wind, es gab Beatles und Stones, Love and Peace, lange Haare und die Pille.
Die andere Welt, fast noch mittelalterlich: Rubigen. Es gab Plumpsklo, Wohnungen ohne Wasser und Strom, Schnapsbrenner und amtlich geforderte Maikäfervernichtungsaktionen. Die Bauern fuhrwerkten mit Pferden und hantierten mit dem Brämechessu. Wenn sie ihren Hühnern mit dem „Gertu den Gring“ abschlugen, flogen die Hühner noch rund 40 Meter weit. Die andere Welt war auch die: Vielen reichte der Zahltag oder die AHV beim besten Willen nicht bis zum Monatsende. Viele kostete es grosse Überwindung, bei Bäcker Dähler Fridu und Käser Dummermuth die Schulden für Brot und Milch in das ominöse Büchlein eintragen zu lassen.»
Rüedu von Rubigen
Rüedu Dummermuth: Mit zwei Brüdern und drei Schwestern bewirtschaftete er den Bauernbetrieb in den zwei alten Bauernhäusern im Dorfzentrum ober- und unterhalb der Metzgerei (Thunstrasse 38 und Bahnhofringstrasse 5). Sein älterer Bruder Ernst war der Chef, der jüngere Bruder Adolf der Melker, und er, Rüedu, der Karrer. Seine drei Schwestern Hanni, Ida und Elisabeth schauten zu Haushalt, Garten und Kleinvieh.
Die einzigen schriftlichen Zeugnisse, die man über ihn finden kann, sind kurze Einträge im Einwohnerregister der Gemeinde. Da steht zum einen: «Geburt 10. November 1898, Heimatort Buchholterberg, ledig, Landwirt, Rubigen.» Und zum andern: «Todesdatum 9. Juni 1964.» Die Archivausbeute ist dünn, umso reichhaltiger ist die Zahl der Anekdoten, die noch heute in geselligen Rubiger Runden erzählt werden.
Rüedu und sein Pflug
Am bekanntesten ist die Pfluggeschichte: Beim Pflügen der Felder beidseits der Bahnlinie trug er den zentnerschweren Eisenpflug jeweils auf der rechten Schulter über die Gleise, das Zaumzeug der Pferde in der linken Hand. Der heute 87-jährige Hans Wittwer, der 1958 nach seiner Hochzeit bei seinen Schwiegereltern im oberen Dummermuth-Bauernhaus wohnte, sagt: «Rüedus letzte Bahnüberquerung mit dem Pflug sah ich 1958, als Rüedu mir sagte: Housi chasch cho luege, dass ke Zug chunnt.»
Rüedu und die 100-Kilosäcke
Ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind auch Rüedus Schulter-Schwertransporte auf seinem Militärvelo. So brachte er 100-Kilo-Kornsäcke vom Bauernhaus über den damaligen schmalen Kiesweg in die Mühle und auf dem Rückweg Säcke mit Taubenfutter zurück nach Hause. Ex-Zaunacker-Landwirt und Spiritus Rektor der ehemaligen Viehzuchtgenossenschaft, Adolf Burkhalter, erinnert sich: «Rüedu war bei allen Rubiger Bauern gern gesehener Drescherei-Helfer, weil er die 100-Kilogramm-Säcke problemlos herumtragen konnte.»
Der ehemalige Oberholz-Landwirt Ernst Schneider erzählt noch heute von anderen Kraftakten des damaligen Dorforiginals: «Jeden Morgen und Abend trug er die Milch seines Bauernhofes in einer 30-Liter-Brente vom Stall in die Käserei und nahm dabei die ganze Breite der Thunstrasse in Anspruch.»
Rüedu gegen das Auto
Rüedu foutierte sich prinzipiell um Verkehrsregeln, nach seinem Motto: «Die Strasse gehört mir!» Ein Vorfall, den ich herzklopfend mit meinem Schulfreund Markus Hodel auf dem Trottoir bei der Metzgerei beobachten konnte: Rüedu kam mit seinem Fuhrwerk der Schlössli-Mauer entlang, trieb seine beiden Pferde an, um mit Schwung den Brüggstock hinauf in die Bühne zu fahren.
Er querte die Gegenfahrbahn und schnitt einem von Bern herkommenden Auto den Weg ab. Der Autofahrer ging voll auf die Bremse, drehte die Scheibe herunter und schrie Rüedu an. Dieser hielt das Fuhrwerk abrupt an, sagte dem Autofahrer, welch „Fotzuhung“ er sei und knallte mit der Geisel wild auf das Autodach. Der Autofahrer fuhr blitzartig davon.
Rüedu gegen die Belper
Seine Kraft stellte Rüedu auch an der Aare unter Beweis. Als ich ein kleiner Schulbub war und sein Nachbar, erzählte er mir, in seiner Jugend sei es das Samstagsvergnügen von ihm und seinen Rubiger Kollegen gewesen, bei der Hunzigenbrücke die Belper zu verprügeln, die „z’Tanz“ wollten in Rubigen oder in Münsingen. Als diese Rubiger Kollegen jeweils von Kleinhöchstetten aus zur Belper Beiz Jägerheim gehen wollten, schwammen sie über die Aare, Rüedu, der nicht schwimmen konnte, hangelte sich am Drahtseil der damaligen Jägerheim-Fähre über den Fluss.
Rüedu und der Schnaps
Den ganzen Tag hatte er einen „Schigg“ (Kautabak) im Mund. Wenn er mit dem Fuhrwerk durchs Dorf zog, klopfte er an Haustüren und erbat sich ein „Schnäpsli“, wie sich Hans Habegger gut erinnern kann. Heinz Schneider, der an der Bahnhofstrasse „Schniders Lädeli“ betrieb, sagt, Rüedu sei jeweils vorbeigekommen und habe sein Münz zusammengekratzt für Sardellen- und Thon-Büchsen und „Suure Moscht“.
Rüedu in der Schule
Eine Geschichte aus Rüedus Schulzeit wurde früher von seinen Mitschülern erzählt: Lehrerin Fräulein Kräuchi habe im Religionsunterricht gefragt: «Weiss jemand, wie der See heisst, der in der Bibel vorkommt?“ Rüedu habe die Hand aufgestreckt und gesagt: «Das ist der See Gegerzensee.» Fräulein Kräuchi, die auf dieser Anrede bestand, war danach noch über 50 Jahre Lehrerin in Rubigen, bis 1957, als ich bei ihr die erste Klasse besuchte.
Persönliches Nachwort des Autors
Lieber Rüedu, Du ungetümer, bärenstarker, mittelalterlicher Rubiger Koloss, du hast mich als Bueb dermassen beeindruckt, dass ich jahrelang die Idee mit mir herumtrug, Dir ein kleines schriftliches Denkmal zu setzen, was ich mit diesem Artikel nun tun kann. Ich kenne die kommunikativen Gepflogenheiten im Himmel nicht, bin mir aber ziemlich sicher, dass Du den Artikel nicht lesen wirst, denn Du hast schon auf Erden lieber Pflüge herumgetragen, als im Kopf Buchstaben zu tischen. Ich hoffe, dass der Artikel Dir vorgelesen wird und dass Du, ohne zu fluchen, zur Kenntnis nimmst, dass Du im Volksgedächtnis weiterlebst als unverwüstliches Dorf-Original, wie es die heutige Zeit nicht mehr hervorzubringen vermag. Alle sagen, Du habest zwar laut fluchen können, aber Du seist nie bösartig gewesen, sondern im Grunde liebenswert. Leider konnte ich trotz monatelanger Suche kein Föteli von Dir und Deinem Fuhrwerk auftreiben. Einer Nichte von Dir aus dem Käserei-Ast der Rubiger Dummermuth-Dynastie verdanke ich ein Bild aus Deinen Flegeljahren. Excuse l’expression! Einfach nur so zur Kenntnis: Die Hunzigenbrücke, viele Bauernbetriebe, die Bauernpferde, die Schmitte, die „Krone“ und das „Schiggen“ gibt es in Rubigen nicht mehr. In Deinem Haus ist jetzt eine Kita. Die Verehrung alter Helden aber ist zeitlos.