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Münsingen - "Alle anderen müssen auch selber an den Zahnarzt denken"

Die Stiftung Freier Leben aus Münsingen hat sich einer umfassenden Erneuerung unterzogen. 35 Jahre lang betreute sie Menschen mit leichten Einschränkungen. Nun ist aus dem "Betreuen" ein "Begleiten" geworden. Gesamtleiter Mauro Bruni und sein Team stellen neu unter dem sogenannten lösungsorientierten Ansatz die Klient:innen der Stiftung ins Zentrum und unterstützen sie beim Erreichen ihrer selbstgewählten Ziele anstatt ihnen diese vorzugeben. Klient Raphael Heimo konnte so den Traum vom Leben in der eigenen Wohnung verwirklichen.

"Das bedeutet für mich Freiheit": Sportskanone und LKW-Fan Raphael Heimo geniesst das neue Leben in seinen eigenen vier Wänden. (Bilder: Isabelle Berger)
Aufgefrischter Hauptstandort, neuer Name, neues Logo: Gesamtleiter Mauro Bruni hat die Modernisierung der Stiftung angeregt.

Mauro Bruni arbeitet seit 22 Jahren in der Stiftung Freier Leben. 20 Jahre lang war er stellvertretender Heimleiter. Als die bisherige Heimleiterin aufhörte, vertraute ihm der Stiftungsrat die Leitung an. Die frühere Heimleiterin habe ihre Arbeit gut, aber nach alten Prinzipien gemacht. "Ich hatte andere Vorstellungen, wie es besser sein könnte", sagt Bruni. Durch sein Netzwerk war er unter anderem mit neuen Haltungen in Berührung gekommen. Als die Pandemie das 35-Jahr-Jubiläum der Stiftung vereitelte, schlug Bruni vor, den für das Jubiläum vorgesehenen Budgetbetrag für einen neuen Webauftritt einzusetzen.

 

Dann führte in Zusammenarbeit mit dem ganzen Team eines zum anderen: Aus "Freier Leben" wurde "Arcowo" – Arbeiten, Coaching, Wohnen –, Logo und Organigramm wurden neu gemacht, die Verwaltung der Klient:innendaten digitalisiert, die Sitzungen professionalisiert, der Hauptstandort und dessen Garten am Niesenweg 12 aufgefrischt. Zudem führte Bruni den lösungsorientierten Ansatz (LOA) ein. Einer der prägenden Werte dieser modernen sozialpädagogischen Haltung ist es, dass die Klient:innen im Zentrum stehen. "Die Klient:innen sagen, was sie wollen. Vorher waren es wir Ausgebildeten, die sagten: Wir wissen, was gut ist", sagt Bruni. Nun begebe man sich auf Augenhöhe mit den Klient:innen.

 

Aus Betreuung wurde Coaching

Das führte zum Beispiel dazu, dass man am Mittagstisch nicht mehr sitzen bleiben muss, bis alle fertig sind, sondern flexibel kommen und gehen kann. Oder dass die Bewohner:innen der angegliederten Wohngemeinschaften selbst sagen können, was ihr Bedarf an Unterstützung ist, statt fix an drei Abenden pro Woche betreut zu werden. Und aus der Betreuung wurde Coaching. "Die Klient:innen haben nun wöchentliche Coachinggespräche, in denen an gezielten Fragen gearbeitet wird", so Bruni. Dabei geht es um Ziele und Träume der Klient:innen.

 

So einen Traum hatte Raphael Heimo (42). Er ist seit 20 Jahren in der Stiftung. Bis ins Alter von 15 Jahren litt er an Epilepsie. "Seit dann bin ich anfall- und medikamentenfrei, aber ich war mit dem Lernen hintendrein, besuchte dann die Kleinklasse und die Realschule", sagt Heimo. Er habe für alles mehr Zeit gebraucht. Die Volllehre als Landschaftsgärnter musste er aufgeben, konnte später aber eine Anlehre auf diesem Beruf abschliessen. Danach kam er in die Stiftung Freier Leben. Nach 12 Jahren Anstellung in einem Reitstall in Münsingen arbeitet er seit Anfang August bei Arcowo selbst wieder auf seinem alten Beruf. Mit Arthur Wenger hat er nun einen im LOA ausgebildeten Coach.

 

Ziel: Eigene Wohnung

Bis vor Kurzem wohnte Heimo in einem Studio, in dem die Platzverhältnisse eng gewesen seien. Im Laufe der Gespräche mit seinem neuen Coach wurde die Wohnsituation zum Thema. "Ich wollte in eine eigene Wohnung mit Balkon, weil ich rauche", sagt er. Also setzten Heimo und Wenger mit der Suche nach einer eigenen Mietwohnung ein verbindliches Ziel, auf das sie hinarbeiten wollten. Die Meinung sei nicht, dass es ein "Laisser faire" gebe, sagt Bruni. Vereinbare man ein Ziel, müssten die Klient:innen in die Verantwortung und der Coach fordere die entsprechenden Leistungen zum Erreichen des Ziels auch ein.

 

Es klappte mit den eigenen vier Wänden. Heimo lebt nun in einer 2.5-Zimmerwohnung zehn Minuten zu Fuss vom Hauptstandort entfernt. "In der eigenen Wohnung zu leben, bedeutet für mich Freiheit", sagt Heimo. Mit der Unterstützung seines Coachs richtete er die Wohnung ein. "Es ist alles durchgestylt", sagt Heimo mit einem breiten Grinsen. Das Wohnzimmer schmücken seine Pokale und Medaillen von Unihockey-Turnieren und Läufen. Sofa, Esstisch, Balkon und die grössere Küche bieten Platz, auch mal Gäste zu empfangen. Und das passiert auch. Heimos nächstes Ziel ist der Jungfraumarathon, an dem er zum dritten Mal teilnehmen wird. Einmal wöchentlich kocht er nach dem Training mit seinem Trainingspartner und Vater seines Göttibubs und dessen Frau nun gemeinsam bei sich zuhause und hat so regelmässig Besuch. "Das ging vorher nicht. Im Studio hatte es dafür keinen Platz", sagt Heimo.

 

"Jetzt muss man mitdenken"

Er muss nun aber auch den Haushalt selber führen und etwa ans regelmässige Waschen und Zahlen seiner Rechnungen denken. Früher sei das Finanzielle und Haushaltstechnische bei der Betreuung fix auf dem Programm gestanden. "Da müssen wir jetzt von uns aus kommen. Vorher wurde gesagt: Du musst das, das, das", sagt Heimo. Jetzt müsse man mitdenken. Der alte Ansatz habe manchmal genervt, sei aber auch bequem gewesen.

 

Das neue Vorgehen findet Heimo gut. "Ich finde es spannend, selber zu überlegen und sich Tipps zu holen", sagt er. Alle anderen müssten auch selber an den Zahnarzt denken. Sein früheres "Hobby", wie er witzelt, habe er so ablegen können. Immer wieder habe er Rechnungen von der SBB versehentlich nicht bezahlt. Dadurch, dass er sich nun selbständig darum kümmern müsse, habe er es gelernt und nicht mehr vergessen.

 

[i] Zur neuen Webseite der Stiftung Arcowo


Autor:in
Isabelle Berger, info@bern-ost.ch
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Erstellt: 12.09.2022
Geändert: 12.09.2022
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