- Kultur
Bar- und Pubfestival Wichtrach: Abstinenz verleiht Flügel
Seit zehn Jahren ist das Projekt "Be My Angel Tonight" an verschiedenen Grossanlässen im Kanton Bern mit einem Stand vertreten. Autofahrer sollen sich vertraglich zur Abstinenz von Alkohol verpflichten - doch nicht alle nehmen es so genau.
Es riecht nach Bier und Rauch, hin und wieder durchzieht der Duft eines süsslichen Parfüms oder beissender Stallgeruch vorbei. Nancy Sinatras «Bang Bang (My Baby Shot Me Down)» schallt aus den Boxen, unterlegt mit Bässen, die das Zwerchfell vibrieren lassen. Leuchtschlangen in allen Farben umschlingen Palmwedel aus Plastik. Daneben Transparente, auf denen «Try Our Drinks» und «Have a Beer» steht - wer einen Grosseinkauf tätigt, wird mit einem Sombrero oder einer Blumenkette belohnt. Gleich neben dem Eingang der Sagibachhalle in Wichtrach bildet sich kurz nach 21 Uhr eine Menschtraube, Formulare und Kugelschreiber liegen bereit. Gegen Angabe von Personalien und Fahrverhalten erhält man dort einen roten Bändel ums Handgelenk. Das Interesse daran ist gross: 278 Besucher wollen an diesem Abend ein Engel sein, 187 werden es letztlich schaffen.
Zehn Barstände machen mit
«Be My Angel Tonight» - sei heute Nacht mein Engel. 2004 startete das Blaue Kreuz das Projekt erstmals im Kanton Bern, es ist jährlich an verschiedenen Grossanlässen dabei. «Wer die Vereinbarung unterschreibt, verpflichtet sich, an diesem Abend keinen Alkohol und keine illegalen Drogen zu konsumieren», sagt Oresta Räfle, Hauptverantwortliche des «Be My Angel Tonight»-Projekts am Barfestival Wichtrach. Mit Flyern und der prominenten Platzierung im Eingangsbereich der Sagibachhalle machen die meist freiwilligen Mitarbeiter auf das Angebot aufmerksam. Angesprochen sind Besucher, die mit dem Auto angereist sind. Wer den Vertrag unterschreibt, erhält den roten Bändel und fortan eine Vergünstigung von einem Franken auf alkoholfreie Getränke. Zehn von dreissig Barständen machen am Projekt mit, eine davon ist in blaues Licht getüncht. Die Blue Cocktail Bar des Blauen Kreuzes verkauft neben Cola und Orangensaft acht Cocktails: süss, herb, scharf oder sauer - alle alkoholfrei. Darunter «Carribean», «On the Beach» (ohne «Sex») oder den «Ipanema» - «das ist ein Pseudocaipirinha», sagt Barchef Markus Wildermuth, «der läuft am besten.» Gegen 300 Getränke werden pro Abend verkauft. Viele Bars würden ihr Angebot an alkoholfreien Getränken zu wenig attraktiv gestalten - vielleicht sei auch das einer der Gründe, warum die Lenker der Versuchung manchmal nachgäben.
Stunde der Wahrheit
Die Reaktionen auf das Angebot fallen unterschiedlich aus: Tanja Stucki aus Hünibach trinkt «eh nie Alkohol», wenn sie fahren müsse, ausserdem möge sie die Fruchtcocktails sowieso am liebsten. Ein anderer Besucher bezeugt eher Unverständnis: «Was, ihr verkauft kein Bier? Kein Bier? Gar kein Bier?» Nach Mitternacht trifft man vor allem zweierlei Leute an: Die einen sitzen apathisch am Tresen und nippen lustlos an ihrem Getränk, ihre Lippen formen zwischendurch vage die raren Worte eines House-Klassikers. Andere tanzen euphorisch und ausschweifend vor der Bühne, wo sich bis zu fünf Personen gleichzeitig am DJ-Pult aufhalten und sich offenbar die Arbeit teilen. Mit den ersten Heimkehrern beginnt dann die Stunde der Wahrheit für die «Engel»: Nur, wer den roten Bändel am Schluss abgibt und keinen Alkohol konsumiert hat, nimmt am Wettbewerb teil. Je nach Sponsor gibt es Städtereisen, Gutscheine oder Vergünstigungen zu gewinnen.
«Wir stellen einige Frage zum Konsumverhalten an diesem Abend», sagt Räfle, «dabei vertrauen wir auf die Ehrlichkeit und Eigenverantwortung.» Zwar habe man früher noch einen Promilletest durchgeführt, «doch der wurde dann für Wetten missbraucht, wer den höchsten Pegel erreicht.» Die meisten Teilnehmer seien sowieso Neulenker und stünden unter dem Druck der Nulltoleranz. Wer dann doch Alkohol konsumiert habe, gebe dies meistens offen und ehrlich zu. Gesichtsausdruck und Aussprache lieferten im Zweifelsfall weitere Hinweise. «Wer den Bändel nicht zurückbringt, hat ihn entweder vergessen oder sich nicht an die Abmachung gehalten.»
Abstinenz - muss das sein?
Doch wird dadurch nicht auch der Eindruck erweckt, dass nur willensstarke Abstinenzler belohnt, der Genussmensch aber bestraft wird?
«Wir streben keine alkoholfreie Gesellschaft an», sagt Karin Hegnauer, Projektleiterin von «Be My Angel Tonight». «Es geht in erster Linie um Sicherheit im Strassenverkehr. Wir wollen die Öffentlichkeit sensibilisieren und mit unseren Präventionsmassnahmen den bewussten Umgang mit Alkohol fördern.» Massvoller Alkoholkonsum sei okay, aber tabu, wenn man ein Fahrzeug lenke.
Nicht alle nehmen es mit ihrer Verpflichtung so genau. Am Schluss bekundet ein Teilnehmer grosses Interesse an einer Bürolampe am Stand, ein anderer hat seinen schweissnassen, fahlen Kopf auf seine verschränkten Arme auf dem Tresen gelegt. Hin und wieder hebt er den Kopf. Eine Städtereise liegt für sie beide wohl nicht mehr drin.
Erstellt:
07.04.2014
Geändert: 07.04.2014
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