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Beitenwil - Spart der Kanton, muss das Humanus-Haus Betreuer entlassen

Quelle
Berner Zeitung BZ

Das Sparpaket der Berner Regierung trifft Institutionen für Behinderte besonders stark. 28,7 Millionen Franken will der Regierungsrat durch Stellenreduktionen sparen. Im Humanus-Haus in Beitenwil reagiert man schockiert auf diesen Vorschlag. Hier müssten Stellen gestrichen werden.

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Dazulernen als Chance: Betreuerin Christine Adelmann (links) hilft Bewohnerin Barbara von Steiger bei der Arbeit am Webstuhl im Humanus-Haus. (Bilder: Beat Mathys)
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Geschockt: Rainer Menzel
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In der Kräuterwerkstatt sitzen vier Frauen an einem Tisch und zupfen vorsichtig Himbeerblätter von den Ästchen. «Die Blätter werden getrocknet und nachher zu einem Tee gemischt», erzählt eine der Arbeiterinnen. Die Frau neben ihr entdeckt eine Spinne, die über den Tisch krabbelt. «Schau mal die Beinchen», sagt sie und lächelt schief.

Die Frauen sind 4 der insgesamt 107 Bewohner des Humanus-Hauses, eines Wohn- und Arbeitsortes für Menschen mit geistiger Behinderung. Das kleine Dörfchen mit Wohnhäusern, Werkstätten und Café schmiegt sich zwischen die Hügel von Beitenwil, daneben erstrecken sich Kornfelder. «Wir haben auch 20 Kühe», erzählt Rainer Menzel, Gesamtleitung Finanzen und Administration, mit einem Blick aus dem Fenster. «Daraus machen die Bewohner Käse in Bioqualität.»

Getrübte Idylle

Seit letztem Freitag sieht Menzel die Dorfidylle des Humanus-Hauses getrübt. An diesem Tag stellte der Regierungsrat den Bericht zur Angebots- und Strukturüberprüfung ASP 2014 vor – ein kantonales Sparprogramm über 247 Millionen Franken (wir berichteten). Folgt der Grosse Rat dem Willen des Regierungsrates, müssen die Institutionen für erwachsene Behinderte einen besonders grossen Brocken schlucken: 2014 werden 15,7 Millionen Franken gekürzt, in den Folgejahren 28,7 Millionen. «Wir sind geschockt», sagt Rainer Menzel. Regelmässig habe das Humanus-Haus mit der Gesundheits- und Fürsorgedirektion kommuniziert – «aber so etwas stand nie zur Debatte».

Menzel spricht bedacht, aber eindringlich, hat auf einem Blatt eine ganze Fülle an Argumenten gegen die Sparmassnahmen niedergeschrieben. Sein Protest richtet sich nicht nur gegen den Spardruck, sondern auch gegen die Mindest- und Richtstellenpläne. Denn mit diesen wird entschieden, wer sparen muss. Damit der Mindeststellenplan von 100 Prozent ermittelt werden kann, werden die Bewohner und ihre Beeinträchtigungen erfasst. Zudem wird festgehalten, wie oft sie im Heim sind, welche besonderen Bedürfnisse sie haben – daraus wird dann die nötige Anzahl Betreuungspersonen berechnet. Der Kanton akzeptiert und finanziert bis zu 20 Prozent mehr Personal als im Mindeststellenplan – mit dieser Obergrenze als sogenanntem Richtstellenplan.

35 Wohnheime im Kanton Bern liegen aber über dieser Grenze und müssen nun sparen, darunter das Humanus-Haus. «Teilweise gibt es Wohnheime, die 60 bis 70 Prozent darüber sind», sagt Claus Detreköy, Leiter der Abteilung Erwachsene im kantonalen Alters- und Behindertenamt. Den Werkstätten, Tagesstätten und verschiedenen Organisationen der Behindertenhilfe werden zudem die Beiträge linear gekürzt.

Jeder vierte Betreuer weg

«Wir rechnen damit, dass wir rund ein Viertel der Stellen im Betreuungsbereich streichen müssen», sagt Menzel. «Es grenzt an Willkür.» Denn, wie Menzel betont, hätten verschiedene Wohnheime verschiedene Voraussetzungen. Er zeigt auf die Gärten neben dem Sekretariat, wo Heimbewohner in der nassen Erde knien und jäten. «Wir sind ein kleines Dorf», sagt er. «Kein überschaubarer Wohnblock.»

Zudem wird im Humanus-Haus die Individualität der Bewohner grossgeschrieben. In der Holzwerkstatt schnitzen die Bewohner zum Beispiel Holz mit scharfen Messern – das benötigt viele Betreuungspersonen. «Natürlich ist es nicht zwingend, dass sie Messer benutzen», sagt Menzel. «Sie könnten auch stumpfe Werkzeuge verwenden.» Aber mit jeder Bevormundung gehe etwas Wichtiges verloren: die Möglichkeit des Einzelnen, sich trotz Behinderung zu entfalten und lebenslang weiterzubilden.

«Ja, es wird einen Qualitätsabbau geben», sagt auch Claus Detreköy. Das sei mit einem derart schmerzlichen Entlastungsprogramm leider unumgänglich. Dazu komme, dass die Sparrunde den Behindertenbereich doppelt treffe. Denn Menschen mit einer Behinderung lebten heute länger – für diese demografische Entwicklung bräuchte es eigentlich mehr Mittel, nicht weniger. Und zum Schluss fügt Detreköy noch hinzu: «Viel Personal bedeutet aber nicht zwangsläufig eine hohe Qualität.» Massgebend seien in einem Heim etwa auch menschliche Kompetenzen oder sinnvolle Konzepte.

Das Behindertenkonzept des Kantons Bern, das vom Bundesrat genehmigt wurde, hält fest, dass behinderte Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen sollen. Menzel: «Noch vor wenigen Jahren dachte man, dass sich der Aufwand der Bildung nicht lohne, da ohnehin kein Erwerbseinkommen erzielt werden könne.» So wie die vier Damen aber Himbeerblätter abzupfen, haben andere Weben oder Kochen gelernt. «Ein Autist hat es nach 30 Jahren und dank intensiver Betreuung sogar geschafft, aus dem Humanus-Haus auszuziehen.» Er wohne nun alleine, in einer 1½-Zimmer-Wohnung in Worb.

Autor:in
Jessica King, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 08.07.2013
Geändert: 08.07.2013
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