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Deisswil: Coop-Supermarkt ist fest in den Händen der Lernenden

Acht Lernende bestellen Ware, beraten die Kundschaft, bewirtschaften die Regale und erledigen administrative Aufgaben: Seit einem halben Jahr sind sie verantwortlich für den Coop-Supermarkt Deisswil beim Bernapark. Mit diesem Pilotprojekt will Coop junge Menschen auf die Arbeitswelt vorbereiten. Kann das gutgehen? Und wie ist den Lernenden mit dieser Verantwortung zumute? BERN-OST hat nachgefragt.

Alles ist ordentlich eingeräumt: Michelle Udry, Mohammad Reza Jafari und ihre sechs Kolleg:innen haben den Supermarkt sichtlich im Griff. (Foto: Ivan Steiner/cw)
Das sind die acht Lernenden (von links): Giusy Rovito, Jirapat Siegenthaler, Dominic Weibel, Mohammad Reza Jafari, Yodith Welday, Michelle Udry, Fatjona Ademi und Eliane Grichting. (Foto: Ivan Steiner)
Mohammad Reza Jafari in seinem Lieblingsrayon, der kühlen Molkerei. (Foto: cw)
Michelle Udry an der Kasse: Ihr gefällt das Miteinander. (Foto: Ivan Steiner)
Coachin Melanie Ruch findet rettbare Fehler nicht so schlimm: «Das passiert ihnen dafür nie mehr!» (Foto: cw)
Das Plakat beim Eingang macht allen klar: In diesem Coop-Supermarkt haben die Lernenden das Sagen. (Foto: cw)

Mohammad Reza Jafari rückt ein paar Joghurts in die Reihe und zeigt dann auf die ordentlichen Kühlregale. «Hier in der Molkerei hat es mir am besten gefallen, weil es immer schön kühl ist», sagt er. Inzwischen ist er im Rayon «Non-Food und Getränke» gelandet. Alle drei Monate ist er für ein neues Rayon zuständig, und mittlerweile hat er seine Aufgaben schon gut im Griff.

 

Aber er erinnert sich noch lebhaft an jenen Augusttag im letzten Sommer – seinen ersten Tag im Coop-Supermarkt Deisswil. «Bevor wir morgens den Laden öffneten, standen wir beisammen und machten einander Mut», erzählt er. In diesem Moment seien ihm aber schon viele Fragen und Gedanken durch den Kopf gegangen, und er sei nicht der einzige gewesen: «Wir waren wohl alle ein bisschen aufgeregt.»

 

Ein Jahr lang die volle Verantwortung

Denn ihn und seine Kolleg:innen, sieben andere Coop-Lernende, erwartete nicht einfach ein gewöhnlicher Lehrjahresbeginn: Für ein ganzes Jahr würden sie diesen Supermarkt als Team selbstständig leiten, unterstützt von zwei Coaches. Ein Jahr lang, so die Vorgabe, würden sie die volle Verantwortung für die Beratung der Kund:innen tragen, die Regale selbstständig bewirtschaften und administrative Aufgaben übernehmen. Also kurz gesagt, die Filiale leiten.

 

Für dieses dritte Ausbildungsjahr als Teil der «Jungfilialleitung» hatten sich die acht Jugendlichen bewerben müssen. Klar, dass sich nur jene meldeten, die gerne Verantwortung übernehmen und Herausforderungen anpacken wollen. Coop selbst bezeichnet das Projekt als «Talentförderungsmassnahme» und setzt damit auf «selbstorganisiertes Lernen und Handlungskompetenzen».

 

Halbzeit im Pilotprojekt: Wie läuft es?

Inzwischen ist das Pilotprojekt bereits in der Halbzeit angelangt, und wir wollten wissen, wie es den Lernenden dabei ergeht. «Ich habe enorm viel gelernt», erzählt Mohammad Reza Jafari. Er lacht herzlich, als er an seine ersten Wochen zurückdenkt: Gleich in seinem ersten Rayon, der Bäckerei, habe er einmal eine Fehlbestellung gemacht und am Ende des Tages je zwei Kisten mit grossen und kleinen Butterzöpfen abschreiben müssen. «Das hat mich sehr gemopst», sagt er. «Aber aus solchen Fehlern lernt man am besten.»

 

In den ersten beiden Wochen, erzählt er, hätten er und seine Kolleg:innen die beiden Coaches Melanie Ruch und Kevin Münger noch sehr oft kurz fragen müssen, wie sie etwas anpacken sollten und ob sie es richtig machen. «Inzwischen bin ich schon viel sicherer.» Ist er bei einer Frage nicht ganz sicher, braucht er keine langen Erklärungen mehr, sondern oft genügt eine kurze «Stehinfo» mit einem der Coaches.

 

Erfahrung und Sicherheit gewonnen

Jafari weiss inzwischen auch, was in dieser Filiale täglich gewünscht ist («Gipfeli und Sandwiches für die Bauarbeiter im Bernapark»), was bei der Kundschaft aus der Umgebung gut läuft («Bio Orangen und Bananen und Bio Rindfleisch»), und worauf man bei der Bestellung sonst noch achten muss: «Saison, Wetter und Schulferien haben einen grossen Einfluss, das müssen wir alles bedenken.» Schon sehr rechtzeitig mussten sie die Spezialbestellungen für Ostern erledigen.

 

Seine Kollegin Michelle Udry – auch sie anfangs etwas unsicher, was sie erwartet –, machte sich vor allem Gedanken darüber, ob sie die grosse Verantwortung in der Arbeit und die Schule unter einen Hut bringen könne. Inzwischen fühlt sie sich aber auch schon recht sicher in ihrer neuen Rolle: «Es läuft sehr gut», findet sie. «Wir lernen viel dazu und werden immer selbstständiger.»

 

Die Coaches brauchen Improvisationstalent

Auch die beiden Coaches, selbst mit einer Coop-Ausbildung im Rücken, standen in den ersten Wochen vor einer ungewissen Herausforderung. «Oh ja, in der Nacht vor dem Start habe ich ziemlich schlecht geschlafen», erzählt Melanie Ruch lachend. Sie fragte sich, ob überhaupt alle Lernenden den Weg finden würden, und wunderte sich, wie das Zusammenspiel in dieser Lernenden-Filiale anlaufen würde und ob sie alle das gemeinsam packen würden.

 

Zwei Punkte allerdings beruhigten sie von Anfang an: Sie hat zehn Jahre Berufserfahrung im Rücken und mit Kevin Münger einen sehr guten Kollegen und Freund zur Seite, den sie schon ebenso lange kennt. Sie wusste: «Zu zweit bringen wir das hin.» Inzwischen könne sie auch den acht Lernenden schon gut vertrauen: «Sie haben das bisher prima gemacht!»

 

Verbrannte Krustenkränze als guter «Lehrblätz»

Einmal habe zwar jemand eine Ladung Krustenkränze im Aufbackofen vergessen, oder jemand bestellte die falsche Anzahl Patisserie. «Aber das sind Fehler, die rettbar sind», winkt Melanie Ruch ab. Und: «Das passiert ihnen dafür nie mehr!»

 

Allerdings begegneten den Coaches schon ein paar unerwartete Hindernisse: Bei acht Lernenden haben alle fixe Schultage und festgelegte Schulferien, das heisst, manchmal sind sechs von ihnen gleichzeitig weg. «Das fordert manchmal viel Improvisationstalent», sagt sie. «Ist dann noch jemand krank, müssen wir uns auf unser Beziehungsnetz verlassen, um Aushilfen zu organisieren.» Oft springe dann eine Kollegin aus einer nahegelegenen Filiale wie Bolligen ein.

 

Gutes Team mit gutem Zusammenhalt

Das sind aber eher technische und lösbare Probleme. Auf der anderen Seite, darin sind sich Coaches und Lernende einig, sei das Tolle in diesem Team der gute Zusammenhalt. Sie seien ein gutes Team, finden alle. Michelle Udry bringt es auf den Punkt: «Ich finde es super, dass wir uns gegenseitig unterstützen, uns viel austauschen und dass uns die beiden Coaches zur Seite stehen.»

 

Und auch Mohammad Reza Jafari, Biologe aus Afghanistan, der mit seinen 29 Jahren anfangs eine Art Onkelrolle bei seinen zehn Jahre jüngeren Mitlernenden eingenommen hat, fühlt sich in der Gruppe wohl. Er findet die Zusammenarbeit mit den jungen Menschen sehr interessant und freut sich: «Wir sind ein echtes Team und unternehmen auch in der Freizeit viel gemeinsam, trinken zusammen Kaffee, treffen uns für einen Spielnachmittag und lernen vor allem gemeinsam.»

 

«Das Modell bewährt sich unbedingt»

Einen solchen Zusammenhang hat auch Melanie Ruch noch selten erlebt: «Alle sitzen im selben Boot und tragen Verantwortung.» Vielleicht ist es dieser Wille, Verantwortung zu übernehmen, der sie so stark verbindet. Jedenfalls gebe es kaum Spannungen, und nach dem ersten halben Jahr seien die jungen Menschen schon erstaunlich sattelfest. «Das Modell bewährt sich unbedingt», sagt sie. Auch wenn es manchmal für alle eine riesige Herausforderung bedeute: «Es fägt mit ihnen allen!»

 

Und es prägt die Lernenden, auch für ihren weiteren Lebensweg. Michelle Udry will sich zwar zuerst einmal darauf konzentrieren, das Jahr gut durchzubringen und die Abschlussprüfung zu bestehen. Aber sie ist überzeugt: «Diese Erfahrung bereitet uns alle super auf unseren Berufsalltag vor.» Sie sei jetzt schon vertraut mit dem, was auf sie zukomme und könne davon profitieren. «Ich weiss beispielsweise ganz genau, was die Funktion der Geschäftsführerin alles beinhaltet.»

 

Weitere Erfahrungen sammeln

Auch Mohammad Reza Jafari, der ursprünglich Lebensmitteltechnologe werden wollte, kann sich gut vorstellen, dass sein Weg nach diesem speziellen Jahr bei Coop weitergeht. Schon im Januar erfuhren die Lernenden an einem Informationsanlass, welche Möglichkeiten ihnen offenstehen. Für ihn steht jetzt schon fest: «Ich möchte weitere Erfahrungen bei Coop sammeln», sagt er zufrieden.

 

Rasch rückt er ganz automatisch ein paar Quarkbecher ordentlicher in die Reihe, dann verabschiedet er sich: Er muss sich um die Bestellungen im Rayon «Non-Food und Getränke» kümmern, damit alles rechtzeitig ankommt. Denn er nimmt seine Verantwortung ernst.


Autor:in
Claudia Weiss, claudia.weiss@bern-ost.ch
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Erstellt: 06.03.2024
Geändert: 06.03.2024
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