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Kiesen - "Deutsch ist etwas Besonderes"

Quelle
Thuner Tagblatt

Michael Libl ist Tscheche – und ein grosser Fan der deutschen Sprache. Im Sommer verbringt er zwei Monate in Kiesen, der Partnergemeinde seines Heimatdorfes Želiv.

In Kiesen arbeitet Michael Libl während zweier Monate in der Gemeinde mit, etwa bei der Abfallentsorgung oder beim Bäumeschneiden. (Bild: Janine Zürcher)

«Deutsch ist meine Lieblingssprache», sagt Michael Libl. Das will etwas heissen, ist der 40-jährige Tscheche doch ein Sprach­fanatiker und spricht auch Russisch und Englisch. Seit einiger Zeit beschäftigt sich Libl sogar mit dem Berndeutschen: «Ich habe von Susanne und Heinz ­Aebersold ein Lehrbuch erhalten», sagt er und freut sich sichtlich. Einige Ausdrücke beherrsche er bereits, könne Gesprächen folgen – doch künftig wolle er sich noch intensiver mit dem Berner Dialekt auseinandersetzen.

 

Den Kiesener Gemeindeschreiber Heinz Aebersold und dessen Frau Susanne zählt Libl zu seinen Freunden in der Schweiz – seit 2000 kommt er regelmässig ins Dorf. Diesen Sommer lebt er während zweier Monate bei einer Privatperson und arbeitet in verschiedenen Funktionen in der Gemeinde mit.

 

Dolmetscher und Vermittler

Seine Aufenthalte in der Schweiz haben sich durch Libls Leidenschaft für Sprachen ergeben. Zwischen seinem Heimatdorf Želiv, rund 100 Kilometer südöstlich von Prag gelegen, und Kiesen existiert seit 1992 eine Gemeindepartnerschaft.

 

«Bis ins Jahr 2000 war jeweils ein Dolmetscher aus unserem Dorf bei den Reisen in die Schweiz dabei», erzählt Libl. Als dieser verstarb, fragte der Želiver Gemeindepräsident Michael Libl an, ob er künftig diese Aufgabe übernehmen wolle. «Ich wollte – aber ich hatte auch wahnsinnigen Respekt vor dieser Aufgabe.» Bei seiner ersten Reise nach Kiesen habe er, der Deutsch vor allem im Selbststudium und später freiwillig in der Schule gelernt hat, auf der zwölfstündigen Carfahrt pausenlos deutsche Vokabeln repetiert.

 

«Als mich Heinz Aebersold bei der Ankunft begrüsste, fiel mir ein Stein vom Herzen: Ich verstehe Schweizer, die Hochdeutsch sprechen, viel besser als gebür­tige Deutsche», sagt der Vater eines 8-jährigen Sohnes. Er ist bis heute als Dolmetscher und Vermittler für die tschechischen Besucher in Kiesen tätig (siehe unten).

 

Vom Schmied zum Studenten

Obschon er bereits früh von Sprachen fasziniert war, schlug Michael Libl beruflich erst einen anderen Weg ein: Er trat in die Fussstapfen seines Vaters und wurde Schmied. Anschliessend besuchte er die Fachmittelschule für Maschinenbau – und entschied sich nach dem Abschluss doch noch für ein Studium der Germanistik und der Anglistik.

 

Nach verschiedenen Tätigkeiten, etwa als Mitarbeiter einer Firma, die Büromöbel produzierte, wurde Libl Vizegemeindepräsident von Želiv. Eine Stelle, die er zwölf Jahre lang innehatte.

 

Umso interessanter sei es für ihn, in Kiesen einen Einblick in die Gemeindeverwaltung zu erhalten: «Der strukturelle Aufbau ist sehr ähnlich. Trotzdem können wir viele Dinge lernen und vergleichen, etwa, wie die Abfallentsorgung bei uns funktioniert und wie sie hier geregelt wird.»

 

Libl interessiert sich auch für die politische Landschaft der Schweiz: «Gerade das Referendum ist ein tolles Instrument in der Politik. Das kennt man in Tschechien nicht, für uns entscheiden die Politiker.»

 

Traumberuf Sprachlehrer

Auch persönlich sieht Libl viele Vorteile im kulturellen Austausch. Dieser sei sehr herzlich, die Menschen hier seien entspannt. Er habe gute Freunde in Kiesen gefunden. «Meine Leute aus Želiv und ich lernen die Lebensweise, das Essen, den Alltag in der Schweiz kennen. Und natürlich können wir unsere Sprachkenntnisse verbessern.»

 

Etwas, das Michael Libl auch den daheimgebliebenen Želivern ermöglicht: Seit acht Jahren ist er, der nach wie vor im Gemeinderat sitzt, selbstständig und unterrichtet privat Deutsch und Englisch. «Damit bin ich bei meinem Traumberuf angekommen», sagt er.

 

Da seine Arbeit oft kopflastig sei, schätze er die Abwechslung durch die körperliche Arbeit, die er während seiner zwei Monate in Kiesen verrichtet: «Ich jäte, reinige das Aareufer von Müll, bin freitags bei der Abfallentsorgung tätig oder gehe dem Hauswart beim Schulhausputzen zur Hand.»

 

Verliebt in die Berge

Auch die Landschaft rund um Kiesen hat es dem Tschechen angetan: «Ich bin total in die Alpen verliebt», sagt Libl und lacht herzlich. Der begeisterte Motorradfahrer unternimmt gerne Touren durch die österreichischen oder die Schweizer Berge.

 

«Da ist es natürlich schön, wenn ich mich auf meinen Reisen in der Landessprache verständigen kann.» Das Argument, dass in diesen und vielen anderen Ländern doch auch auf Englisch kommuniziert werden könne, lässt Libl nicht gelten: «Das mag sein. Aber Deutsch ist etwas Besonderes.»

 

 

Gemeindepartnerschaft

Seit 1992 unterhalten die Gemeinden Kiesen und Želiv eine Gemeindepartnerschaft. Solche Bündnisse sollen den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch fördern. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg im europäischen Raum ins Leben gerufen. Im Falle von Kiesen und Želiv reist jedes zweite Jahr eine Delegation aus Tschechien ins Aaretal, im jeweils anderen Jahr verbringen interessierte Kiesener einige Tage in der tschechischen Gemeinde. Die Gäste kommen jeweils in Privathaushalten unter. In diesem Jahr kann Kiesen am 15. August 27 Personen aus Želiv bei sich begrüssen. Während fünf Tagen erhalten diese einen Einblick ins Gemeindeleben. Michael Libl fungiert als Dolmetscher und Ansprechperson für die tschechischen Gäste. Heinz und Susanne Aebersold organisieren ein Programm für die Besucherinnen und Besucher. «Wir besichtigen etwa ­jeweils eine Stadt und fahren einen Tag in die Berge», sagt er. Auch der Rega-Basis in Belp oder einer Käserei wurden bereits Besuche abgestattet. «Am letzten Abend gibt es ausserdem einen Unterhaltungsabend mit Musik, Tanz und Gesang.»

 

Erstellt: 09.08.2018, 18:49 Uhr


Autor:in
Janine Zürcher, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 10.08.2018
Geändert: 10.08.2018
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