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Familie Widmer aus Münsingen: Davids langer Weg zum grossen Tag
Für David ist die Schule eine Qual. In der 7. Klasse sagt ihm der Schulleiter, er werde nie eine dreijährige Berufslehre schaffen. Ab der 8. lernt er zu Hause in der Stube. Wie aus der Verzweiflung eine Erfolgsgeschichte wuchs.
Ein Mitschüler in Anzug und Krawatte drängelt sich durch die Menschen, die aus dem Saal strömen. «Hey, gratuliere.» Handschlag, Schulterklopfen. David Widmer erwidert die Gratulation, doch er will raus aus der Menge. Mutter Franziska eilt ihm hinterher, will ihn umarmen. David neigt kurz den Kopf an ihre Schulter, drückt Vater Christoph, dann will er zum Buffet. Fleischkäse und Kartoffelsalat, Bier und Weisswein. Nicht dass er Hunger hätte, aber man habe ja dafür bezahlt, sagt David und schenkt sich Wein in einen Plastikbecher. Gläser gibt es keine, angestossen wird trotzdem. David, 19 Jahre alt, ist seit einer Viertelstunde Landschaftsgärtner mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis – dank des Unterrichts zu Hause, wie er sagt.
Fünf Jahre ist es her, seit Widmers bei der Erziehungsberatung sassen, David sich Bilder und Buchstabenreihen zu merken versuchte. C8 3L X7 – wie ein zappelnder Fisch entglitten ihm die Ziffern, der Experte attestierte ihm eine eingeschränkte Merkfähigkeit. Fünf Jahre ist es auch her seit jener Standortbestimmung, als Christoph Widmer den Schulleiter fragte, ob sein Sohn je eine dreijährige Berufslehre schaffen werde. Zwei Jahre hinkte David zu diesem Zeitpunkt hinter dem Schulstoff her. Die Antwort des Schulleiters: «Nein.»
«Catalpa bignonioides»
Fototermin im Lehrgarten der Gewerblich Industriellen Berufsfachschule GIB Thun. «Hier haben wir Pflanzennamen gelernt für die Abschlussprüfung», erklärt David. In einer halben Stunde beginnt die Diplomfeier. Mutter Franziska ordnet ihr Haar, fotografiert zu werden, ist ihr nicht ganz geheuer. «Schau, dass man dein Loch im Schuh nicht sieht», mahnt sie David und lächelt. Doch der ist fürs Foto schon auf den nächsten Baum geklettert. «Das ist ein Catalpa bignonioides, ein Trompetenbaum», ruft er zwischen den Blättern hervor. Heute präsentiert sich David, posiert stolz für den Fotografen. Damals hat er sich versteckt. Versteckt hinter dem Kaninchenstall auf dem Balkon. Die Lücke zwischen dem Geländer und dem Stall war klein. David, damals acht Jahre alt, machte sich noch kleiner. Der Boden war kalt im Frühjahr 2003, aber er hatte ja sein Kissen. Er versteckte sich vor der Schule, vor den Büchern, die er nicht lesen wollte, den Rechenaufgaben, die er nicht lösen konnte. Doch die Mutter fand ihn. Wie jedes Mal.
Zu Hause war David glücklich. Im botanischen Garten sammelte er Beeren vom Boden auf, steckte die Samen in Säckchen mit feuchter Erde und hängte sie an das Heizungsrohr im Bad. Bis zu 200 Jungpflanzen zog er, dicht an dicht, das Rohr war kaum noch zu sehen. Er hatte Kaninchen und Hamster und einen sehnlichen Wunsch: Zebrawelse, eine vom Aussterben bedrohte Fischart, nur im Rio Xingú in Brasilien gibt es sie. «Die Schule aber», sagt er, «war für mich wie ein Einschub ins Leben. Stunden, in denen ich vor mich hin vegetierte.»
Nichts mehr zu verlieren
In einer Reihe sitzen sie, David, Christoph, Lehrmeister Daniel Mosimann, Franziska. Sänger Christian Tschanz eröffnet mit einem Chanson. «Tu es mon meilleur ami», singt er. Doch Davids bester Freund, sein jüngerer Bruder Lukas, fehlt, und auch Josha, der Kleine, ist nicht da. «Schade», sagt Mutter Franziska, «aber auf der Einladung stand ‹zwei Personen›».
94 junge Gärtnerinnen und Gärtner erhalten heute ihr Zeugnis, zum ersten Mal werden auch Attestzeugnisse für eine zweijährige Ausbildung verliehen. David aber wird den eidgenössischen Fähigkeitsausweis erhalten.
Schon lange hatte Franziska den Gedanken im Hinterkopf gewälzt, ihren ältesten Sohn aus der Schule zu nehmen und zu Hause zu unterrichten. Zugetraut hatte sie es sich nicht. Sie hatte einst Nachhilfeunterricht gegeben, ja, aber sie war keine Lehrerin. Nach der Schule hatte sie Kauffrau gelernt, jetzt sorgte sie für Haushalt und Kinder, ihr Mann arbeitete als Pfleger. Doch was hatten sie noch zu verlieren nach dem Gespräch mit dem Schulleiter? Beim Geburtstagsessen von Oma Sonia erzählte sie von ihrer Vision vom Homeschooling. Im Nachhinein, sagt Franziska, war es die Reaktion von Opa Ruedi, die sie bestärkte. Nicht Zweifel brachte er vor, sondern Pläne. Dieses und jenes gelte es zu bedenken, da und dort Infos einzuholen. Opa hatte ein Projekt.
Drei Schüler, vier Lehrer
Noch einmal gibt es Musik, der Sänger wechselt auf Berndeutsch. Lehrmeister Daniel Mosimann klopft im Takt, David sitzt ganz ruhig, fast andächtig da, hört zu. «E Träne louft dir über d Backe ab, du fragsch mi, ob du würklech muesch ga.» Vater Christoph flüstert David etwas ins Ohr und lacht, David aber lauscht still dem Sänger. «U i warte uf di, allei dehei, wünsche es würd scho zwöufi schlah, dr erscht Schueutag, dä vergisseni nie.» Franziska wischt sich verstohlen über die Augen.
Achtes Schuljahr, Unterricht am Stubentisch, Unterdorf, Münsingen. Am Mittwoch unterrichtete Oma Französisch, am Donnerstag Opa Natur, Mensch und Mitwelt. Englisch, Deutsch und Mathematik lernte David bei Mutter Franziska, Werken im Bastelraum bei Vater Christoph. Gott habe ihr Kraft und Mut gegeben, sagt Franziska. Nach einem Jahr nahmen sie auch Lukas und Josha aus der Schule. Drei Schüler Widmer, vier Lehrer Widmer. Sie massen Radumfänge, büffelten Rechtschreibung. Josha las der Katze vor, Lukas baute einen Pfeilbogen, schoss Pfeile 120 Meter weit. David entwarf einen automatischen Triangel, betrieben mit Solarenergie. Er las nun Buch um Buch über die Zebrawelse, verschenkte selbst gezogene Pflanzen zu Weihnachten.
Auf die Bühne und lächeln
Es sind alle verdankt, die verdankt werden müssen, das Publikum ist begrüsst, die Statistik vorgestellt. Nun ist er da, der Moment der Diplomübergabe. Die Besten werden geehrt, für herausragende Leistungen gibts Hüte, Sonnencreme und Pflanzenbestimmungsbücher. David applaudiert. Genau eine Bewerbung hat er schliesslich geschrieben, Daniel Mosimann, naturnaher Gartenbau, Münsingen. Er hatte dort geschnuppert. Ein paar Tage später kam der Anruf. Er hatte die Stelle. Nach den Ehrungen gehts alphabetisch weiter. Jeder Abgänger, jede Abgängerin erhält ein Sackmesser. Bei den Buchstaben A bis I fällt ein Stapel Sackmesser hinunter. J bis L, weitere Couverts, Gratulationen. Eltern mit Kameras und Smartphones dokumentieren den Moment.
2011, Gewerbeschule. Im ersten Test schrieb David eine 6. Zum 18. Geburtstag erhielt er ein Aquarium und sieben Zebrawelse, endlich. Vertiefungsarbeit, Facharbeit, Abschlussprüfung. Am 19. Juni 2014 meldete die Schule: Bestanden!
Bei M bis Z zückt auch Vater Christoph seine Kamera, eine Nikon D200. Normalerweise fotografiert er damit Lokomotiven, heute seinen ältesten Sohn. David geht die Treppe runter und rauf auf die Bühne. Händedruck, Gratulation, ein Lächeln für den Fotografen – schon ist der Moment vorüber. Zurück am Platz untersucht David sein Fähigkeitszeugnis, dreht es in den Händen, fotografiert es. Nun hat er keine Zeit mehr, den anderen zu applaudieren. Der kleine rote Ausweis geht durch die Bankreihe, noch ungefaltet, frisch gedruckt und makellos, von David zu Vater, Lehrmeister und Mutter. «Widmer David Silas», steht da, «hat das Qualifikationsverfahren bestanden als Gärtner, Garten- und Landschaftsbau.» «Wow», flüstert Franziska, «wow.»
Erstellt:
16.07.2014
Geändert: 16.07.2014
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