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Gschaffig und eine grosse Jasserin: Abschied von der ältesten Oberdiessbacherin

Lina Hofer-Stalder war eine Person, die überall aushalf, wo sie gebraucht wurde. Umso mehr genoss sie die freie Zeit im Alter: Sie nahm sich vom Leben, was sie kriegen konnte und jasste am liebsten von morgens bis abends.

Lina Hofer in ihrer Lieblingsfarbe Rot. (Bild: zvg)
Tochter Lisbeth Lüthi, Sohn Erwin Hofer und Schwiegertochter Vreny Hofer (v.l.) mit einem Bild von Lina Hofer in Sonntagstracht. (Bild: Anina Bundi)

„Frau Hofer ist noch gut zwäg und freut sich auf Ihren Besuch“, schrieb uns der Gemeindeschreiber von Oberdiessbach Oliver Zbinden vor ein paar Wochen. Am Telefon war Lina Hofer ein wenig misstrauisch aber auch sehr neugierig und bereit zu einem Interview, wenn ihre Schwiegertochter dabei sei. 99 Jahre alt, lebte sie noch allein an der Freimettigenstrasse und freute sich auf den Hundertsten im nächsten Frühling.

 

Zwei Tage vor dem vereinbarten Datum dann die traurige Nachricht: Lina Hofer-Stalder, älteste Bewohnerin Oberdiessbachs, ist am 26. September 2019 nach kurzer Krankheit im Spital von Thun gestorben. Anstatt eine alte Dame zu besuchen, traf ich deshalb ihre Tochter Lisbeth Lüthi, ihren Sohn Erwin Hofer und Schwiegertochter Vreny Hofer und liess sie von Lina Hofer erzählen.

 

Eine Brille gegen die Runzeln

Das Bild in der Todesanzeige zeigt Lina Hofer als fröhliche Frau mit einem klugen, energischen Blick. Die Brille sei nicht echt, erzählt Lisbeth Lüthi. Lina habe ihr im Alter von 98 Jahren gebeichtet, auf einem Auge seit Jahren praktisch blind zu sein. Was sie als peinliches Geheimnis gehütet hatte, entpuppte sich als behandelbar. Nach einer Operation sah sie so gut, dass sie keine Brille mehr brauchte. „Nach kurzer Zeit meinte sie aber, sie vermisse sie. Man sehe jetzt ihre Runzeln besser. Also gingen wir eine Fake-Brille kaufen.“

 

Die Verstorbene habe fest damit gerechnet, 100 Jahre alt zu werden. Sie hatte ein paar Gebresten, jasste nicht mehr ganz so gut wie früher, aber war für ihr Alter gesund. Dass es danach irgendwann zu Ende gehen würde, wusste sie allerdings auch. Am Telefon erzählte sie von sich aus, sie wolle beerdigt werden, ohne dass jemand ihren Lebenslauf verlese. Sie bestand aber auch darauf, vor dem Besuch mithilfe von Vreny einen zu verfassen, mit einem Bild und den Eckpunkten ihres Lebens.

 

Volleyball bis Mitte 70

Geboren am 11.3.1920, zwei Kinder, fünf Gross- und zwei Urgrosskinder. Aufgewachsen in den Kantonen Freiburg und Bern, einige Jahre bei fremden Leuten als Verdingkind, 1948 Heirat mit Ernst Hofer, Mitarbeit im gemeinsamen Baugeschäft in Oberdiessbach. Sie war aktives Mitglied in der Frauenriege, im Frauenverein, im Samariterverein, da viele Jahre als Präsidentin, und in der Trachtengruppe Linden. Volleyball spielte sie bis Mitte 70. Seit 1985 lebte sie als Wittwe.

 

Was ihre Kinder und ihre Schwiegertochter über Lina Hofer erzählen, lässt ein grosses Herz erahnen, das sie aber nicht auf der Zunge trug. Ihre Liebe zeigte sie durch harte Arbeit. Sie half ihrem Mann Ernst Hofer im Baunternehmen, fuhr im Sommer fast jedes Wochenende mit Kindern und Mann zu Verwandten nach Mosseedorf um ihnen im Schwimmbad zu helfen, das diese dort führten. Sie nahm alle bei sich auf, die eine Bleibe brauchten. Lange lebten ihr Bruder Ferdinand und ihr Schwager Otto bei ihr. „Es kam kaum vor, dass wir und unsere Eltern mal einfach allein wohnten“, erzählen Lisbeth Lüthi und Erwin Hofer. Immer waren Gäste da, wurden verköstigt, gepflegt, beraten.

 

Viel Freiheit für die Kinder

Für allzuviel Zuwendung gegenüber ihren Kindern fehlten Lina Hofer da wohl manchmal die Zeit. Aber in ihrem offenen Haus war immer etwas los und fanden Lisbeth und Erwin Freunde und Raum, um zu spielen, wenn sie nicht gerade mithelfen mussten. „Wir waren nicht verbäbelet, aber hatten viel Freiheit“, erzählt Lisbeth Hofer. Und ihre Mutter habe viel gelacht, auch über sich selber.

 

Ihr Denken an andere war tief und fest, hatte aber nichts mit Religion zu tun. Denn auf die war Lina Hofer nicht gut zu sprechen.

 

Auf Anraten des Pfarrers verdingt

Darüber, wie sie aufgewachsen war, habe sie erst wenige Jahre vor ihrem Tod gesprochen. Lina geb. Stalder war die Älteste von drei Kindern. Ihre Mutter fuhr von Kriechenwil nach Bern Zmärit und brachte die Familie durch, der Vater wohnte und arbeitete auswärts. Die 12-jährige Lina wegzugeben war die Idee des Pfarrers. Mehrere Jahre wohnte und arbeitete sie bei Verwandten aber auch bei Fremden. Zuletzt bei der Grossmutter in Schmitten/ Freiburg. Das sei eine „sehr strenge Zeit“ gewesen, schreibt sie in ihrem Lebenslauf. Lina konnte zwar zur Schule gehen, aber für Hausaufgaben war keine Zeit. „Sie war aber eine gute Schülerin und schlau und lernte einfach auf dem Schulweg“, erzählt Tochter Lisbeth.

 

Dem Pfarrer verzieh sie nicht. Als Erwachsene blieb sie pflichtbewusst Mitglied der reformierten Kirche und schickte die Kinder in den Konfirmationsunterricht. Selber ging sie aber nur zu wichtigen familiären Anlässen hin und liess die Religion keine Rolle spielen in ihrem Haushalt.

 

„Man hat ihr gehorcht“

Lina Hofer wusste, was sie wollte und sagte das auch. Bis zuletzt. „Das kommt davon, dass sie sich wehren musste“, ist Sohn Erwin überzeugt. Wohl auch weil ihr Ehemann „nicht befehlen konnte“, wie Schwiegertochter Vreny Hofer meint, hatte sie zuhause das Kommando. „Man hat ihr gehorcht“, erzählt der Sohn. „Sie hatte es nicht leicht im Leben“, sagt die Tochter.

 

Im Alter, von Sorgepflichten allmählich befreit, kümmerte sich Lina Hofer um ihre eigenen Interessen und Leidenschaften. Am wichtigsten war das Jassen. Mit Freundinnen, Verwandten, auswärts. Manchmal spielte sie fünf Turniere in einer Woche. Sie fuhr mit dem Car hin oder liess sich von der Tochter oder Jasskollegen chauffieren. „Sie konnte von früh bis spät jassen und zählte schneller als viele jüngere“, erzählt Vreny Hofer. Etliche Male gewann sie. Alle Enkelkinder kamen so zu einem Goldvreneli. Sie reiste aber auch und schaute Sport im Fernsehen. Für Roger Federer stand sie mitten in der Nacht auf, und vom Ausgang sei sie noch vor einem Jahr auch mal morgens um vier heimgekehrt. „Sie hatte mehr Termine als wir alle.“

 

Als letztes Kleid eine leuchtend rote Bluse

Am Ende waren es die Nieren, die nicht mehr mitmachten. Lina Hofer musste ins Spital und starb dort nach wenigen Tagen in Gesellschaft ihrer Lieben. „Nun liegen die Karten auf dem Tisch“, heisst es auf der Todesanzeige anstelle eines Bibelzitats. Lina Hofers Wille wurde bis zum Schluss respektiert. Man liess sie sterben „ohne grosse Maschinerie“, wie sie es wünschte und auch schriftlich verfügt hatte. Und man begrub sie still im engsten Familienkreis im Gemeinschaftsgrab von Oberdiessbach. Als letztes Kleid trug sie eine leuchtend rote Bluse. „Sie durfte als Kind kein Rot tragen, obwohl sie es sehr liebte. Aber nur Kinder von reichen Leuten durften Rot tragen, entschied ihr Vater. Später holte sie das nach“, erzählt die Tochter, die hier auch das Schlusswort haben soll: „Sie war bestimmt und sagte ihre Sache. Aber sie war auch sehr beliebt und wird fehlen.“

 

[i] Dieser Text erschien zuerst im Newsletter der Gemeinde Oberdiessbach


Autor:in
Anina Bundi, anina.bundi@bern-ost.ch
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Erstellt: 05.12.2019
Geändert: 05.12.2019
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