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Leben mit Autismus: Olivier geht seinen Weg – bis ins Bundeshaus?

Olivier Marti ist 29-jährig, Autist und kandidiert für die Behindertensession. Er erzählt, wie der Autismus sein Leben beeinträchtigt, und was er als Parlamentarier ändern würde.

Olivier Marti hat gelernt mit dem Asperger Syndrom zu leben. (Foto: Rolf Blaser)

Seit zwei Jahren arbeitet Olivier Marti als Service-Angestellter im Restaurant Fabrique 28. Nachdem er eine Ausbildung abbrechen musste, gefällt es ihm hier. Olivier sagt heute: "Der Kontakt mit anderen Menschen motiviert mich." Das war nicht immer so. Bis er einer geregelten Arbeit nachgehen konnte, musste er einige Hürden nehmen.

 

Als Kind nicht gespielt

Wir sitzen an einem Tisch im Restaurant, an Oliviers Arbeitsplatz im Berner Monbijou-Quartier, während er aus seinem Leben erzählt. In Brig geboren, verbrachte er seine ersten acht Jahre in Pruntrut im Jura. In dieser Zeit sprach er nur französisch. Seiner Grossmutter fiel auf, dass er anderen Leuten nie in die Augen schaute. Auch seine Eltern hatten bemerkt, dass Olivier wenig Kontakt mit Kindern hatte, dass er viel Zeit benötigte, um etwas zu lernen. Die ärztliche Diagnose lautete: Asperger Syndrom, eine Variante des Autismus.

 

"Warum soll ich Deutsch lernen?"

Als Olivier neun war, zog die Familie nach Bachs im Kanton Zürich. Sein Vater kommt aus der Region um Neuenburg, seine Mutter aus Grosshöchstetten. Zuhause sprachen sie französisch. In Bachs besuchte er die Primarschule, die Schulkinder sprachen Deutsch. Für Olivier war dies eine Hürde: "Ich dachte, wozu soll ich Deutsch lernen? Ich habe das damals nicht verstanden, ich konnte ja schon eine Sprache. Ich war da sehr stur", sagt Olivier heute in bestem Deutsch. Mit zwölf folgte der Umzug der Familie nach Grosshöchstetten, wo er die Sekundarschule besuchte.

 

Keine Freude an der Schule

Damals habe er viele Comics gelesen, auf Französisch. Dank deutschen Comics lernte er langsam diese fremde Sprache. Es gab noch weitere Themen, die ihm halfen Deutsch zu lernen. "Bei allem, wo es um Theater, Mathematik oder Geographie ging, das interessierte mich." Er habe auch einige Klassen wiederholen müssen, aber am Ende habe er die Schule gut geschafft. "Ich und die Schule, das war keine Freundschaft. Ich wünschte, ich hätte es besser machen können. Unter dem Strich habe ich aber viel gelernt." Seine besten Noten holte er im Französisch und im Englisch.

 

Was Autismus ausmacht

Zum Autismus sagt Olivier: "Man hat Mühe, dem Gegenüber in die Augen zu schauen. Man nimmt nicht teil am Leben, ist empfindlicher. Wenn etwas nervt, dann kann es richtig nerven. Menschen mit Autismus dramatisieren schnell, haben viele Ideen, was schiefgehen könnte." Als Kind habe er sich nicht damit auseinandergesetzt, habe in seiner eigenen Welt gelebt. "Ich war meistens allein, habe mich nicht getraut, mit anderen Kindern Kontakt aufzunehmen. Ich wollte schon, konnte aber nicht."

 

Manchmal habe ihn auch der Lärm gestört. Viele Menschen in einem Raum können ihn irritieren, auch heute noch. "Ich habe auch einen Hang zum Grübeln, ich kann Tausend Mal über etwas nachdenken und es lässt mich nicht mehr los. Beispielsweise wenn mir bei der Arbeit ein Fehler unterläuft, so beschäftigt mich das oft noch Stunden nachher."

 

Therapie hat geholfen

Heute kenne er seine Störung, er habe sich viel mit Autismus auseinandergesetzt. "Ich habe eine Wandlung gemacht." Er habe viel Zeit bei der Psychiaterin und in der Ergotherapie verbracht. Dazu kamen Gespräche mit der Familie. Mit dem ÖV zu fahren, sich um die eigenen Finanzen kümmern, ging zu Beginn seines Erwachsenenlebens noch nicht. Heute kann er das. "Ich wollte das können. Bei mir dauert halt alles länger. Meine persönliche Entwicklung wurde vom Autismus gebremst, das ist meine Theorie", so Marti. Heute sei er motiviert, sich für die Welt zu öffnen.

 

Lehre geschafft

Nach der Schule habe er verschiedene Schnupperlehren gemacht, bei einer Bäckerei, als Polymechaniker, interessiert habe ihn nichts. Über die Invalidenversicherung IV kam er zu einer 2-jährigen Lehrstelle bei der Gewa-Stiftung in Zollikofen. "Es war eine Logistik-Lehre, ich habe mich um die technische Montage gekümmert, bin viel mit Staplern gefahren." Gefallen habe ihm diese Arbeit nicht. "Es war eine Beschäftigung, eine Ablenkung. Ich war damals sehr introvertiert."

 

Zweite Ausbildung abgebrochen

Nach der Lehre begann er eine zweite Ausbildung zum Restaurantangestellten. Diese musste er nach zwei Monaten abbrechen. "Der Stress und der Druck waren zu hoch, ich war zu empfindlich. Das Verhältnis mit den Kollegen war nicht gut, sie waren Teenager, ich war der älteste, das ging nicht." Über seine Psychiaterin kam er auf das Angebot von Blindspot. Blindspot betreibt Restaurants und bietet jungen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung eine Stelle in der Gastronomie.

 

Zufrieden mit der Arbeit

Seit zwei Jahren arbeitet Olivier in der Fabrique 28, ein Restaurant von Blindspot. "Es gefällt mir sehr gut, es gibt jeden Tag Herausforderungen." Er arbeitet im Service drei Stunden pro Tag an fünf Tagen pro Woche. Ein 8-Stundentag gehe nicht. Er fühle sich dann nicht mehr wohl, die Kraft fehle und auch die Geduld. "Es findet dann eine Reizüberflutung statt", weshalb drei Stunden reichten. "Ich kriege einen Lohn, daneben kriege ich noch die IV und Ergänzungsleistungen. Damit komme ich gut durch, ich bin froh, kann ich hier lernen, selbständiger zu werden", sagt Olivier.

 

Kandidatur fürs Bundeshaus

Zum Ende des Gesprächs, sagt er, dass er jetzt eine Pause brauche. Dabei gäbe es noch viel zu erzählen. Von seinen Hobbys, wie er Romane, Opern, Filme oder andere Musik analysiert. Oder von seiner Kandidatur für die Behindertensession im Bundeshaus. "Pro Infirmis hat mich angefragt und ich habe spontan zugesagt. Politik interessiert mich nicht, aber ich gehe immer abstimmen und wählen."

 

Wenn er im Parlament politisieren könnte, was würde er machen? "Wenn ich an Politik denke, sehe ich nur Menschen ohne Beeinträchtigung. Was, wenn wir das ändern könnten? Ein Ziel wäre, dass mehr Menschen mit Beeinträchtigung in der Politik vertreten wären. Und auch der Zugang zum Arbeitsmarkt sollte vereinfacht werden."

 

Jetzt online wählen

"Vielleicht wird damit meine politische Karriere gestartet, vielleicht nicht", sagt Olivier Marti zum Schluss. Die Behindertensession wird von der Pro Infirmis organisiert, sie findet am 24. März statt. 44 Personen können teilnehmen. Bis am 21. Januar kann online gewählt werden. Aus der Region Bern-Ost kandidieren: Olivier Marti, Grosshöchstetten, Patrik Meyer, Münsingen, Esther Kunz, Beitenwil, Jennifer Pauli, Worb und Marianne Plüss, Konolfingen.

 

[i] Hier können Sie Ihre Stimme für die Behindertensession abgeben

 

[i] Restaurant Fabrique 28, Monbijoustrasse 28, Bern

 

[i] In einer ersten Version wurde Autismus fälschlicherweise als Krankheit bezeichnet. Dies wurde korrigiert. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, der komplexe Störungen des zentralen Nervensystems zugrundeliegen – insbesondere im Bereich der Wahrnehmungsverarbeitung – und die bereits im Kindesalter beginnt. In Ihrem Zentrum steht eine schwere Beziehungs- und Kommunikationsstörung.


Autor:in
Rolf Blaser, info@bern-ost.ch
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Erstellt: 19.01.2023
Geändert: 19.01.2023
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