- Kultur
Linard Bardill: Von Engeln, Eseln und Scharansern
Wohnen statt hausen: Der Bündner Liedermacher Linard Bardill veröffentlicht am Freitag nach Jahren wieder ein Erwachsenenalbum. Er widmet «Scharans – If You Make It There» seinem Heimatdorf, in dem er dank seines Sohnes und zweier Esel Wurzeln geschlagen hat. Eine Begegnung.
Manchmal treibt Linard Bardill zwei Esel durchs Dorf. Manchmal auch sie ihn. Dann büxen sie aus, und ihm bleibt nur noch, hinterherzurennen oder sie laufen zu lassen und am Dorfrand in irgendeinem Einfamilienhausgarten wieder einzusammeln. Dank Oro und Rosa hat der Bündner Liedermacher sein Dorf Scharans, in dem er seit fast dreissig Jahren lebt, erst richtig kennen gelernt. Denn bis vor ein paar Jahren hat das Dorfleben für ihn nicht stattgefunden. Es sei ein «Leben und Lebenlassen» gewesen mit ihm und den Scharansern, erzählt Bardill. Er sitzt auf der Holzbank vor seinem Haus mitten in Scharans und geniesst die Sonnenstrahlen, die sich eben einen Weg an den Wolken vorbei zum Bündner Tal Domleschg gebahnt haben. Früher sei er mit dem Auto zu seinem Haus gefahren und mit dem Auto wieder weg, habe höchstens mal was im Dorfladen eingekauft. Doch dann kam der «kleine Buddha», sein Sohn mit Downsyndrom, und der wollte durchs Dorf laufen, mit Menschen in Kontakt kommen, «wohnen, nicht hausen», wie Linard Bardill es ausdrückt. Also legte er sich die Esel zu und begann zu spazieren. Und jene Wurzeln zu schlagen, die ihm heute so wichtig sind. Dass Linard Bardill seinem Dorf nun sogar ein Album widmet, hat viel mit diesen Spaziergängen zu tun.
Auffallen und Teilen
Es ist ruhig an diesem Vormittag in Scharans, ab und zu summt eine Biene, mal gackert ein Huhn. Oder ein Traktor fährt vorbei – schlängelt sich um den grossen Dorfbrunnen zwischen dem Wohnhaus und dem Atelier, das der Architekt Valerio Olgiati 2007 für Bardill gebaut hat. Der auffällige rote Bau mit Innenhof ist ihm Inspirations- und Rückzugsort, hier finden aber auch Ausstellungen, Konzerte und Theatervorstellungen statt. Linard Bardill kennt und grüsst jeden, der an diesem Morgen hier vorbeifährt. «Der allererste Militärdienstverweigerer, der in der Schweiz offiziell verurteilt wurde, war ein Scharanser», erzählt er nicht ohne Stolz. «Der eben im alten Aebi-Zweiachser war sein Sohn.» Die Scharanser seien schon immer ein eigenes, eigensinniges Völkchen gewesen: «Man sagt, es gebe Frauen, Männer und Scharanser», sagt Bardill und lacht. So laut und schallend, dass er Hühner wie Bienen übertönt. «Do findisch Chrischte und Budischte / Freiwirtschafter, Nihilischte / Bürger mit und ohni Macht», heisst es denn auch in «Scharans die 1.», einer von zwei völlig unterschiedlichen Scharans-«Hymnen» auf dem Album «Scharans – If You Make It There». Die erste ist melancholisch und liebevoll, begleitet von einem wehmütigen Akkordeon und einer sehnsüchtigen Gitarre. «Scharans die 2.» hingegen ist fröhlich ohne Wenn und Aber, schliesslich macht ja auch ganz Scharans mit: Das Lied entstand gemeinsam mit Matt Buchli, Frontmann von 77 Bombay Street, der in Scharans aufgewachsen ist. Ein Ad-hoc-Kinderchor und der Männerchor Scharans singen mit, der Kirchenchor der örtlichen Schule und die Ländlerkapelle Hohenrätien kommen ebenfalls zu Ehren. Aufgenommen wurde das Lied in der Turnhalle von Scharans, unterstützt und beklatscht vom ganzen Dorf.
Gehen und Zurückkommen
«Ich kann mir nicht vorstellen, in einem gesichtslosen Agglodorf zu leben, in dem man eigentlich nur schlafen und wieder gehen kann», sagt Bardill. Die Schweiz komme ihm aber mehr und mehr wie eine grosse Agglo vor. «Ein Baum, der nicht Wurzeln schlägt, das ist Agglo. Kommt ein Windstoss, fällt der Baum um.» Deshalb sei er auch im Bündnerland geblieben, «obwohl Scharans für meinen Beruf geografisch schlecht liegt». Für fast jedes Konzert muss er weit fahren. Aber er habe sich vor dreissig Jahren in dieses Haus verliebt, es gemeinsam mit seiner Schwester und seiner damaligen Frau renoviert. «Das ist Teil meines Lebensgefühls. Es ist schön, irgendwo zu Hause zu sein. Weggehen von dort, wo man aufgewachsen ist, ist schon wichtig. Zurückkommen aber auch.» Heute nimmt Bardill aktiv am Dorfleben teil, auch wenn einige ihn für einen wunderlichen Kauz halten, wie er andeutet. Er sitzt in einer Kommission, die sich mit Raumplanung beschäftigt, singt ab und zu im Behindertenheim und organisiert das Scharanserfest mit, an dem die Ländlerkapelle, der Gospelchor und die Hardrockband der Jungen auftreten. «Und am Schluss kommt noch DJ Paul, der eigentlich Bauer ist. Das ist Scharans!»
Zweifeln und Glauben
Die Sonne ist wieder verschwunden. In seinem Atelier serviert Linard Bardill Kaffee und Bündner Nusstorte und spricht über den «kleinen Buddha», der seinen Lebensstil verlangsamt und seinen Horizont erweitert hat. Der jedes Mal die Dorflinde umarmt, wenn er an ihr vorbeikommt. Linard Bardill sinniert und diskutiert gerne, über die Schweiz, über Asylpolitik, über unser Verhältnis zum Geld und jenes zur Natur, das so mechanisch geworden sei. Manchmal frage er die Kinder an Konzerten, ob sie einen Engel hätten. «Manche sagen Ja, andere Nein. Dann frage ich die Erwachsenen, und ein paar wenige Frauen bejahen die Frage, aber die Männer wissen es meistens nicht», meint Bardill und lacht wieder sein Bienen übertönendes Lachen. Ob er selber denn einen Engel habe? Der Liedermacher schaut ein wenig verdutzt. «Aber sicher! Er heisst Alberto.» Er sei schon immer da gewesen, und hin und wieder nehme er Kontakt mit ihm auf. «Mit einem Engel zu kommunizieren, heisst auch, eine Distanz zu sich selber zu bekommen. Manchmal ist man zu sehr identifiziert mit seinem eigenen Quatsch, Engel helfen dabei, sich selber wieder in ein anderes Licht zu rücken.» Das Lied «Engel» auf dem neuen Album erzähle von einer wahren Begebenheit. Den misstrauischen Städterblick erwidert er mit schallendem Lachen. Und plötzlich versteht man die Scharanser: Die, die ihn mögen ebenso wie die, die ihn für einen wunderlichen Kauz halten.
[i] Zum Album
Mehr Dörfli geht nicht
Das neue Album von Linard Bardill ist eine Hommage an das Bündner 800-Seelen-Dorf. Auf «Scharans – If You Make It There» spielen nur Scharanser Musiker mit.
Ein Engel, der tausend Schafe rettet, ein Annäherungsversuch via Facebook, zwei Liebeserklärungen an Scharans und ein Appell an ein müde gewordenes Volk: Linard Bardills Themenspektrum ist so unerschöpflich wie seine musikalische Experimentierfreude. Da wird gejodelt und gesungen, gefeiert und geweint. Das klingt mal bluesig, mal urchig, mal eigenwillig und mal massentauglich. «Scharans – If You Make It There», das sich augenzwinkernd an die berühmte «New York»-Hymne von Frank Sinatra anlehnt, nahm Bardill innerhalb von nur drei Tagen mit seiner Tubeschlagbänd auf – ausschliesslich Scharanser: vom Keyboarder Michi Gertschen (77 Bombay Street) über den Gitarristen Peter Finc (Freund von Linard Bardill) bis hin zum Bassisten Gian Lorenz («Bündnerflaisch»), mit Tino Lorenz am Schlagzeug. Und: Linard Bardill spielt auf einer Gitarre des wohl berühmtesten Scharansers – des Gitarrenbauers Claudio Pagelli, der seine Instrumente von Scharans aus in die ganze Welt liefert. So ist das Album, das gemeinsam mit einem Fotobuch über Scharans erscheint, neben den zwei offensichtlichen Scharans-«Hymnen» auch eine indirekte Hommage an das 800 Seelen grosse Heimatdorf von Linard Bardill. Das Album richtet sich wieder an Erwachsene, während Bardill in den letzten Jahren vor allem Musik für Kinder geschrieben hat. So klingt mal Gesellschaftskritik an («Revolution»), und in «Rätsel» muss man gut hinhören, um zu erraten, was gemeint ist. Es findet sich aber auch Generationenübergreifendes wie das Mut machende «Holi». So ist «Scharans – If You Make It There» wie ein Ausflug aufs Land: Es stimmt einen melancholisch. Und trotzdem möchte man gerne ein wenig länger bleiben.
Linard Bardill: «Scharans – If You Make It There», mit Fotobuch, Soundservice. Live in der Region: 28. September, Mühle Hunziken, Rubigen.
Erstellt:
03.09.2014
Geändert: 03.09.2014
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