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Livia Howald-Walker: «Mit der Hand abstimmen ist nicht mehr zeitgemäss»

In Grosshöchstetten soll künftig nicht mehr an der Gemeindeversammlung, sondern an der Urne abgestimmt werden. Mit einer Initiative soll die Gemeindeversammlung abgeschafft werden. Grosshöchstetten wäre damit die erste Gemeinde im Kanton, die neue Wege ginge.

Livia Howald-Walker will mit der Initiative «Urne statt GV» die Gemeindeversammlung abschaffen. (Foto: Rolf Blaser)

Livia Howald-Walker ist 30-jährig, sie ist in Grosshöchstetten aufgewachsen und wohnt seither dort. Vor vier Jahren ist sie als Mitglied in die Bildungskommission nachgerutscht und danach wiedergewählt worden. Seit zwei Jahren ist sie Präsidentin der Freien Wählergruppe Grosshöchstetten. Die Freie Wählergruppe sei weder eine Partei noch ein Verein, sondern eine Gruppierung von Leuten, denen Grosshöchstetten am Herzen liege.

 

Die Freie Wählergruppe Grosshöchstetten sorgt mit einem spektakulären Anliegen für Aufsehen, mit der Initiative «Urne statt GV» will sie die Gemeindeversammlung abschaffen. Über Gemeindeanliegen soll nur noch brieflich abgestimmt werden. Wenn nötig, kann die Gemeinde vor der Abstimmung eine Orientierungsversammlung durchführen. Wir haben mit Livia Howald-Walker, der Präsidentin der Freien Wählergruppe Grosshöchstetten gesprochen.

 

BERN-OST: Livia Howald-Walker, wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Gemeindeversammlung abzuschaffen?

Livia Howald-Walker: Wer schon mal an einer Gemeindeversammlung war, weiss, dass es sehr formell zu und hergeht. Leute die unregelmässig arbeiten, müssen sich diese zwei Termine jährlich freihalten. Bei Familien mit kleinen Kindern, muss man einen Babysitter organisieren. Die Stimmbeteiligung an der Gemeindeversammlung beträgt zwischen drei und fünf Prozent. Wenn nur drei Prozent der Bevölkerung einen Entscheid mittragen, ist es anders, als wenn 68 Prozent Ja sagen. In unseren Augen ist das Abstimmen mit Hand heben nicht mehr zeitgemäss, 97 Prozent werden ausgeschlossen.  

 

Die werden doch nicht ausgeschlossen. Ein grosser Teil von denen, die nicht kommen, interessiert es wohl schlicht und einfach nicht.

Stimmt, die Leute, die sich nicht interessieren, holen wir auch an der Urne nicht ab. Meine erste Gemeindeversammlung war formell, stier und trocken. Um die Hand heben zu können, bin ich drei Stunden blockiert. An der letzten Gemeindeversammlung im Dezember, die sehr lange dauerte, verliessen viele den Saal vor der Abstimmung. Zudem wollen sich nicht alle öffentlich äussern, weil sie sich nicht exponieren wollen.

 

Bei einer Urnenabstimmung können keine Anträge gestellt werden. An einer Gemeindeversammlung ist dies möglich. Beispielsweise bei einer Abstimmung über eine Steuererhöhung.

Man könnte drei bis vier Wochen vor der Abstimmung eine Orientierungsversammlung organisieren. Danach haben die Leute Zeit, sich eine Meinung zu bilden und brieflich abzustimmen. Bezüglich Anträge, so weit sind wir noch nicht. Dies müsste man mit der Gemeindeverwaltung anschauen, wie man dies lösen kann. Wir haben das bewusst offen formuliert.

 

Über grosse Projekte ab einer Million Franken wird in Grosshöchstetten schon heute an der Urne abgestimmt. Wenn ich an eine Gemeindeversammlung gehe, lasse ich mich nicht mehr umstimmen. Es geht nicht um eine Entscheidfindung, sondern um abzustimmen.

 

An einer Gemeindeversammlung wird nicht nur abgestimmt, auch das Volk kann orientiert werden, es wird über laufende Projekte informiert.

Letzten Sommer hatten wir eine Info-Veranstaltung zur neuen Turnhalle. Das wurde gut genutzt, viele Leute nahmen teil. Man konnte sich einen Überblick verschaffen und Fragen stellen. Die Abstimmung kann dann später stattfinden.

 

An einer Gemeindeversammlung sollte ich die Stimme abgeben können und nicht noch diskutieren. Das passt eher zu einer Info-Veranstaltung.

 

Wie läuft die Sammlung, wie reagieren die Leute?

Seit März kann man den Unterschriftenbogen ab unserer Website runterladen. Viele Leute haben bereits unterschrieben, obwohl wir noch nicht aktiv sammeln waren. Insgesamt benötigen wir 304 Unterschriften.

 

Wie hat die Gemeinde auf die Initiative reagiert?

Dadurch dass es nicht aus dem Blauen entstanden ist, wurde erwartet, dass die Initiative kommt. Wir hatten mehrere Gespräche mit der Verwaltung, der Austausch war sehr offen.

 

Wenn die Gemeindeversammlung abgeschafft würde, wäre dies schon eine kleine Revolution.

Wir wären die erste Gemeinde ohne Parlament im Kanton Bern, die das hätte. Beromünster und Meggen im Kanton Luzern haben die Gemeindeversammlung bereits abgeschafft, dort hat eine SVP-Initiative dazu geführt. Wir haben uns an ihnen orientiert.

 

Was würde es bringen?

Ich denke nicht, dass anders entschieden würde. Ein Ja an der Urne wäre breiter abgestützt. Wir erhoffen uns, dass die politischen Entscheide von einem grösseren Teil der Bevölkerung getragen werden. Die Partizipation ist uns wichtig, aktuell ist dies nicht gegeben.

 

Und übrigens: Während Corona ging das auch. Die Jahres Rechnung 2020, ein Kredit für ein neues Tanklösch-Fahrzeug und ein Kommissionsreglement wurden damals an der Urne bei einer Stimmbeteiligung von 58 Prozent angenommen.

 

Sie würden damit eine Tradition abschaffen.

Traditionen kann man brechen. Ich finde es ist wichtig, dass sich auch jüngere Leute auf kommunaler Ebene für Politik interessieren und abstimmen. National sind wir gut, kommunal besteht noch Luft nach oben. Und etwas ist mir noch wichtig.

 

Ja, bitte.

Wichtig ist mir noch zu erwähnen, dass eine Urnenabstimmung zu keiner Verschiebung der Kompetenzen führt. Zudem würden die Abstimmungstermine mit den eidgenössischen Abstimmungen koordiniert.

 

[i] Der Unterschriftenbogen kann über die Website der Freien Wählergruppe Grosshöchstetten runtergeladen werden. Das Komitee hat bis am 19. August Zeit um 304 Unterschriften zu sammeln. Danach werden die Unterschriften von der Gemeindeverwaltung beglaubigt und der Gemeinderat entscheidet, wann über die Initiative abgestimmt wird.

 

[i] Die Bevölkerung von Beromünster hatte im Februar 2022 mit 56 Prozent Ja-Stimmen die Gemeindeversammlung abgeschafft. Seither wird an der Urne abgestimmt, im Vorfeld der Abstimmung findet eine Orientierungsversammlung statt.

 

In Meggen wurde die SVP-Initiative «Geschäfte an die Urne» mit 50.7 Prozent Ja-Stimmen knapp angenommen. Die Abstimmung fand im Herbst 2022 statt. Die neue Gemeindeordnung trat am 1. Juli 2023 in Kraft. Über alle Geschäfte wird seither an der Urne abgestimmt, im Vorfeld finden Orientierungsversammlungen statt.


Autor:in
Rolf Blaser, rolf.blaser@bern-ost.ch
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Erstellt: 15.04.2024
Geändert: 15.04.2024
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