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Motorrad - Achterbahn der Emotionen

Quelle
Berner Zeitung BZ

Die Saison endete für Tom Lüthi mit einem bösen Sturz in Malaysia. Dennoch bezeichnet der Berner 2017 als bestes Jahr seiner Karriere. Mit dem Aufstieg in die Moto-GP erfüllt sich sein Bubentraum. Der 31-Jährige steht vor einer grossen Herausforderung – unter schwierigen Voraussetzungen.

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Zwischen Stolz und Frust: Tom Lüthi durchlebt gegen Ende Jahr ein Wechselbad der Gefühle. (Bild: Marcel Bieri)

Es ist alles gerade ein bisschen kompliziert in der Karriere von Tom Lüthi. Dabei hätte der beste Motorradfahrer der Schweizer Sportgeschichte allen Grund dazu, an Weihnachten überglücklich ein paar Tage im vor kurzem fertiggestellten Eigenheim zu Hause in Linden innezuhalten.

Schliesslich erfüllt sich Lüthi im Jahr 2018 einen «Bubentraum». So nennt er seinen Aufstieg in die Moto-GP-Kategorie. «Ich bin stolz», sagt Lüthi, «denn ich habe mir das alles in den letzten Jahren hart erarbeitet. Es war als Fahrer aus der kleinen Schweiz ein langer, schwieriger Weg. Wir haben dabei viele richtige Entscheidungen getroffen.»

Der Sturz

Es sind extreme Gefühlsschwankungen, die Tom Lüthi gegen Ende des Jahres 2017 durchlebt. Im Training zum GP von Malaysia stürzte der Berner Ende Oktober heftig, es war der Abschluss einer ganzen Reihe spektakulärer Unfälle in den Überseerennen in Japan, Australien und Malaysia. Damals fehlte Teamchef Fred Corminboeuf, der auf Sponsorensuche war, und das sei sicher nicht ideal gewesen, sagt Lüthi. «Ich wollte dann im Titelkampf zu viel, ging ein zu hohes Risiko ein.» Er habe gespürt, dass er den Rivalen Franco Morbidelli in den letzten Minuten des Trainings von der Poleposition verdrängen könnte. Also gab er «richtig Gas», ging «ein bisschen übers Limit», wollte das Glück «mit der Brechstange» erzwingen. Lüthi verlor den Tanz auf der Rasierklinge – und brach sich den Fussknochen. Futsch war der WM-Titel, mal wieder stand eine Operation bei Doktor Mettler in Münsingen auf seiner Agenda.

Und selbst wenn Lüthi sagt, er habe 2017 seine bisher beste Saison absolviert, «haben die Leute nun doch vor allem den Sturz von mir im Gedächtnis und den verlorenen Titelkampf». Dabei fuhr der 31-Jährige in 10 von 16 Rennen aufs Podest. «Wir haben uns endlich jene Konstanz erarbeitet, die wir jahrelang gesucht hatten. Deshalb war es für mich sogar die bessere Saison als 2005.» Damals war er in der kleinsten Kategorie Weltmeister geworden – und Schweizer Sportler des Jahres. «Der Unfall in Malaysia ist halt der schwarze Fleck einer überragenden Saison», sagt Lüthi.

Die Krücken

Das ist alles bald zwei Monate her. Es waren seither vielleicht die schlimmsten Wochen in der langen Profikarriere von Tom Lüthi. Er nennt die Zeit mal «schlimm», mal «brutal», mal «nicht so cool», und er gibt zu, richtig «down» gewesen zu sein. «Das war mental eine sehr harte Phase für mich.» Denn nicht nur das Duell mit Morbidelli endete enttäuschend, Lüthi verpasste auch die ersten Moto-GP-Tests im November in Valencia verletzt. Dabei hatte er sich so sehr darauf gefreut. Er sei trotzdem an das Saisonfinale gereist, weil er anständig erzogen worden sei und sich von seiner Mannschaft habe verabschieden wollen. Die Testtage seien unfassbar traurig gewesen. «Ich stand an der Box, an Krücken, neben meinem Moto-GP-Töff, den dann irgendein japanischer Testfahrer fuhr.» Das sei nicht despektierlich gemeint, es sei einfach ärgerlich gewesen.

Der Frust

Tom Lüthi benötigte ein paar Wochen, um sich vom Schock zu erholen. «Ich war nicht ich», sagt er, «ständig war ich niedergeschlagen und frustriert.» Zum Gespräch am Nikolaustag in einem Fitnesscenter erscheint er noch mit Krücken. Aber endlich wieder voller Elan. «Das Aufbautraining verläuft gut, ich bin im Zeitplan, werde weiter hart arbeiten», erzählt er. Und: «Ich musste lernen, den Unfall zu akzeptieren. Nun spüre ich wieder Motivation und Freude.»

Mittlerweile sind die Gehhilfen nicht mehr tägliche Begleiter, Lüthi arbeitet intensiv an Physis und Stabilität, zwei bis drei Kilogramm Muskeln will er aufbauen. «Im Moto-GP ist es anstrengender, weil man stärker bremsen muss, mehr PS zur Verfügung stehen und das Vorderrad ständig nach oben will», sagt er. «Aber immerhin weiss ich nun, dass ich Ende Januar topfit sein werde, wenn ich endlich die ersten Testtage absolvieren darf.»

Das Krafttraining

Es ist nicht so, dass Tom Lüthi keine Erfahrung mit Unfällen hätte. «Aber jeder Sturz ist anders», sagt er. Hängen bleiben würde nichts, er habe den Abwurf in Malaysia analysiert, die Sache sei vorbei, so sei es nun mal als Motorradrennfahrer. Sein Winterprogramm hat er geändert, statt Motocross in Kalifornien mit Kollegen heisst es im Dezember: Krafttraining in Steffisburg und Lützelflüh. Anfang Jahr reist er ein paar Tage zum Töfffahren nach Spanien, ehe bis zum Saisonstart in Katar Mitte März mehrere Tests anstehen. «Ich bin im Nachteil, weil ich in Valencia nicht fahren konnte. Aber es ist entscheidend, dass ich nicht ungeduldig werde. Selbst wenn mir das sehr schwerfallen wird.»

Die Erwartungen

Denn – eben – die Sache ist richtig kompliziert. Einerseits würde Tom Lüthi in neuer Umgebung, im neuen Team, auf neuem Arbeitsgerät in neuer Kategorie Zeit benötigen, um sich zu akklimatisieren. Er sagt: «Ich muss mir diese Zeit nehmen, ganz bewusst, und Schritt für Schritt gehen.» Andererseits sind die Erwartungen an ihn hoch. «Die Leute, die mich seit Jahren verfolgen, kennen mich als Fahrer, der um Siege fährt und Titel. Viele denken sicher, Top-10-Plätze seien das Minimum im Moto-GP.»

Die Wahrheit ist eine ganz andere. Tom Lüthi wird mit allergrösster Wahrscheinlichkeit vorerst ein Hinterherfahrer sein, vielleicht ab und zu Chancen besitzen, um Rang 15 und damit um Punkte zu fahren. «Ein Jahr benötigt man wohl schon, um richtig drin zu sein», sagt Lüthi.

Über seine Ziele mag er öffentlich noch nicht reden. «Zuerst muss ich endlich auf der verdammten Maschine sitzen können.» Aber er wird sich Etappenziele setzen. Bester Rookie vielleicht, was gleichbedeutend wäre, den alten Konkurrenten und neuen Teamkollegen Franco Morbidelli zu bezwingen. Lüthi spricht voller Begeisterung vom Italiener, freut sich auf die Zusammenarbeit – und seinen neuen Arbeitgeber Marc-VDS-Honda. «Das ist schon eine andere Welt», schwärmt er, «alles ist hochprofessionell organisiert.»

Das Team

Hinter Marc-VDS-Honda steht der belgische Biermilliardär Marc van der Straten, ein lockerer Kerl, wie Lüthi sagt, der am Genfersee wohne und ein «Töfffreak» sei. Kürzlich weilte Lüthi für ein Wochenende in Belgien an einem Marc-VDS-Honda-Teamanlass. Inklusive mehrerer Essen, unter anderem wurde der WM-Titel Morbidellis ausgiebig gefeiert. «Das hatte mich zuerst richtig angeschissen», sagt Lüthi. «Aber es waren tolle Tage mit einem Superteam.» Sein wertvoller, langjähriger Chefmechaniker Gilles Bigot bleibt Lüthi erhalten. «Er ist meine Vertrauensperson. Aber auch er wird sich an die Moto-GP gewöhnen müssen.»

Sein neues Abenteuer geht Lüthi in einer besonderen Drucksituation an. Denn er muss sofort Argumente liefern, die für eine Ausdehnung der Zusammenarbeit mit Marc-VDS-Honda sprechen. Vorerst für ein Jahr hat ihn Marc van der Straten unter Vertrag genommen. «Angedacht ist eine mehrjährige Partnerschaft», sagt Lüthi. «Aber das hängt von meinen Leistungen ab.»

Die allermeisten der 23 anderen Moto-GP-Fahrer kennt Lüthi, gegen viele ist er bereits gefahren. Und selbst Superstar und Vorbild Valentino Rossi habe ihm zum Aufstieg gratuliert. «Sie freuen sich für mich», sagt er schmunzelnd, «aber es ist nicht so, dass sie vor Angst erstarren, weil der Lüthi oben mitfährt.» Im Übrigen sei es nicht so, dass er nun Millionär sei. «Ich werde ja auch weniger Punkteprämien einfahren.»

Die Rückkehr

Den Schalk hat Tom Lüthi nach schwierigen Wochen längst wiedergefunden. Und sowieso: Seine Geschichte auf der Achterbahn der Emotionen hält eine hübsche Pointe parat, die direkt aus einem kitschigen Wintermärchen stammen könnte: Die ersten Moto-GP-Runden 2018 wird Lüthi Ende Januar in Malaysia drehen. Dort, wo er Ende Oktober stürzte.


Autor:in
Fabian Ruch, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 22.12.2017
Geändert: 22.12.2017
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