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Münsingen: «Wild wird es höchstens dreimal pro Jahr»

Ein Sozialhilfebezüger, der vergangenen Frühling im Sozialdienst Münsingen randalierte, ist laut einem Bericht der Boulevardzeitung 20 Minuten dieser Tage dafür verurteilt worden. BERN-OST wollte von Sozialdienstleiter Martin von Känel wissen: Ist die Arbeit auf einem Sozialdienst immer so aufregend?

Martin von Känel, Leiter des Sozialdienstes Münsingen, will die Dienststelle absichtlich nicht abschotten: Der Dienst soll auch weiterhin niederschwellig ansprechbar bleiben. Foto: zvg
Sozialdienststelle Münsingen: Laut wird es häufig, die Polizei rückt selten an. (Foto: zvg)

«Sozialdienst Münsingen: Klient sieht rot.» Unter diesem Titel erschien letzte Woche ein Beitrag von «20 Minuten». Der Klient wurde jetzt von der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland verurteilt. Aber der Vorfall gibt zu denken und wirft die Frage auf: Nimmt Gewalt gegenüber Sozialdiensten zu? BERN-OST fragte bei Martin von Känel, Leiter des Sozialdienstes Münsingen, nach.

 

Grobe Beleidigungen, Drohungen, tätlicher Angriff

Zum Vorfall: Ein 38-jähriger Sozialhilfebezüger verlangte laut dem Bericht von «20 Minuten» zuerst mehrmals wütend telefonisch, «man solle ihm die Internetrechnung bezahlen und eine andere Sozialarbeiterin zur Seite stellen». Etlichen groben Beleidigungen und Drohungen, er werde sonst den «Sch…laden aufräumen», habe er letzten Frühling dann Taten folgen lassen: Er verlangte am Schalter des Sozialdienstes Geld und griff schliesslich Sozialdienstleiter Martin von Känel sogar tätlich an. Erst die alarmierte Polizei konnte die Situation entspannen, indem sie den randalierenden Klienten abführte.

 

Solche Fälle, bestätigt von Känel, kommen tatsächlich ab und zu vor. «Laut wird es häufig, aber die Polizei müssen wir selten aufbieten.» Das passiere «höchstens zwei- bis dreimal pro Jahr». Ansonsten verlaufe die Arbeit auf dem Sozialdienst oft von aussen gesehen ziemlich unspektakulär: Sie beinhalte fast zu zwei Dritteln administrative Arbeiten rund um Berichte, Falldossiers oder organisatorische Aufgaben. Aber: «Unsere Arbeit ist menschlich äusserst anspruchsvoll, abwechslungsreich und interessant.»

 

Zur einen Hälfte Kindes- und Erwachsenenschutz…

Die 700 Falldossiers, die er und seine Mitarbeitenden jährlich beim Sozialdienst bearbeiten, gliedern sich in zwei Gruppen. Ungefähr die Hälfte gehört zum Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes. Hier arbeitet der Sozialdienst im Auftrag der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb). Die Klient:innen können sehr alte Menschen sein. «Auch in unserer Gemeinde leben immer mehr Leute, die über 85 Jahre alt sind und teils an starker Demenz leiden», erklärt von Känel. «Viele sind einsam und brauchen Unterstützung, beispielsweise beim Verwalten ihres Geldes.»

 

Auf der anderen Seite geht es oft um die Jüngsten: Um Kinder und Familien – manche mit Migrationshintergrund, manche ohne –, denen unser Schulsystem oder die Fürsorge für ihr Kind Schwierigkeiten bereitet. Oder um Eltern, die nach einer «Rosenkrieg-Scheidung» Unterstützung brauchen bei der Regelung der Besuchszeiten ihrer Kinder. «Hier haben wir oft eine schwierige Rolle inne», erklärt von Känel.  «Wir greifen stark in das Leben dieser Familien ein.»

 

Und es sei nicht einfach zu wissen, welcher Entscheid der beste sei, sagt von Känel, der den Sozialdienst Münsingen seit zehn Jahren leitet: «Müssen wir bei nicht verheirateten und getrennt lebenden Eltern den Kindesunterhalt festlegen, geht es ums Abwägen.» Die Frage, ob man mit einer Unterhaltsberechnung von 1500 Franken für die nächsten 18 Jahre einen jungen Vater in die Schulden treibe, oder ob man stattdessen eine junge Mutter vom Sozialdienst abhängig mache, sei eine schwierige Entscheidung: «In diesen Fragen gibt es selten ein klares Richtig oder Falsch, und wir bemühen uns, dass sich niemand als Verlierer fühlt.»

 

…zur anderen Hälfte Existenzsicherung

Bei der anderen Hälfte der Klient:innen, die sich beim Sozialdienst melden, geht es um die Existenzsicherung mit Sozialhilfe – wie beim kürzlich verurteilten randalierenden Klienten. «Diese Fälle werden weniger, aber zugleich teurer», sagt von Känel. Bei einigen genüge zwar eine kurze Ankick-Hilfe, beispielsweise bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund, die in der Lehre sind. Diese, erklärt er, benötigen manchmal nur kurzfristig Hilfe bei der Ausbildungs- oder Arbeitssuche, können dann aber ihr Leben selbstständig führen.

 

Andere hingegen, oft Personen mit gravierenden psychischen Problemen, bleiben jahrelang bei der Sozialhilfe. «Das sind Fälle, die auch uns belasten», sagt Martin von Känel: «Diese Personen sind oft aufgrund ihrer Diagnose gar nicht arbeitsmarktfähig. Aber wir müssen sie trotzdem zur Arbeitssuche verpflichten, weil wir einen Integrationsauftrag haben.» Das könne für beide Seiten ausgesprochen frustrierend sein.

 

Budgetberatung oder Zahnarztfinanzierung

Der Sozialdienst, das findet Martin von Känel sehr wichtig, biete jedoch auch präventive Unterstützung für Menschen, die kurzfristig in Schwierigkeiten geraten sind: «Wir machen beispielsweise Budgetberatungen oder können jemanden mit Fonds Beiträgen bei einer sehr teuren Zahnbehandlung unterstützen.» Das seien ausgesprochen niederschwellige Angebote, die zu seinem Bedauern viel zu wenig bekannt sind. Dabei mache es grossen Sinn, sich beraten zu lassen, bevor man in Schulden gerate: «Am schönsten wäre, wenn sich die Leute rechtzeitig und von sich aus bei uns melden!»  

 

Alles in allem, fasst von Känel zusammen, sei die Aufgabenpalette eines Sozialdienstes enorm breit: Die Mitarbeitenden müssten nicht nur in Sozialer Arbeit ausgebildet sein, sondern sich auch in Buchhaltung auskennen, ein Zahlenflair und ein Faible für juristische Fragen haben. Und: «Wir müssen uns bewusst sein, dass wir in unserer Funktion Macht ausüben. Dies bedingt, dass wir immer selbstkritisch bleiben müssen.» Bei so vielen Anforderungen benötigen neue Mitarbeitende drei Jahre, bis sie richtig eingearbeitet sind.

 

Wird die Arbeit härter?

Martin von Känel liess sich vor über 30 Jahren zum Sozialarbeiter ausbilden. Wenn er zurückblickt: Ist seine Arbeit härter geworden, verhalten sich die Klient:innen gewalttätiger? Er überlegt kurz. Dann sagt er: «Verbale Drohungen hat es schon immer gegeben, allerdings hat sich seit der Pandemie der Ton verschärft: Corona hat quasi einen Turbo gezündet.» Das Vertrauen in die Kompetenz staatlicher Institutionen habe sehr gelitten und die Leute seien tendenziell sehr argwöhnisch, sobald die Kesb und die Sozialdienste ins Spiel kommen. «Das ist leider kaum hilfreich.»

 

Umgang im Team – und persönlich

Von Känel und seine Mitarbeitenden haben allerdings gelernt, mit ablehnenden oder aggressiven Reaktionen umzugehen: Bei verbalen Drohungen versuchen sie es mit ruhigen Gesprächen und hilfreichen Erklärungen und zeigen Verständnis: «Bei Klient:innen, denen beispielsweise Beiträge gekürzt werden, ist eine wenig erfreute Reaktion verständlich.» Umso wichtiger sei es, ihnen als verständnisvolles, geduldiges Gegenüber zu begegnen. «Null Toleranz jedoch zeigen wir, wenn es um tätliche Angriffe geht.» Und: Nach jedem Vorfall sei es sehr wichtig, das Team gut zu stützen, mit intensivem Austausch, mit Supervision und mit einer klaren gemeinsamen Haltung.

 

Wie dann jemand persönlich mit verbalen oder tätlichen Angriffen umgehe, sei sehr individuell: Eine Mitarbeiterin habe vor ein paar Jahren psychologische Betreuung in Anspruch genommen, nachdem ein Klient ihre Büroeinrichtung aus dem Fenster geworfen habe. Eine andere Mitarbeiterin hingegen habe relativ ungerührt reagiert, als ein Klient seine Waffe vor ihr auf den Tisch legte und Geld von ihr verlangte: «Sie hat ihn sehr bestimmt rausgeworfen. Das war grenzwertig, aber es war ihre Souveränität, und sie konnte den Vorfall gut verarbeiten.» Generell, sagt von Känel, müssten Mitarbeitende auf einem Sozialdienst aber schon lernen, mit Belastungen umzugehen.

 

Grosses Problem: Überlastete Psychiatrie

Fast schwieriger jedoch findet er, dass immer mehr Administration den Berufsalltag bestimmt: «Vor 20 Jahren haben kurze dreiseitige Berichte gereicht. Heute muss so vieles abgeklärt und festgehalten werden, dass dieselben Berichte mindestens zehn Seiten lang werden.» Sozialarbeit werde immer teurer, weil die Qualitätsansprüche enorm gestiegen seien: «Oft geht das auf Kosten der Zeit für die Menschlichkeit.» Das mache Sozialarbeit fehleranfällig und die Klientenbeziehung schwieriger, bedauert von Känel.

 

Daneben beschäftigt ihn das Thema interkulturelle Kommunikation: Sie mache es seinen Mitarbeiterinnen oft sehr schwierig, mit Männern aus Ländern mit patriarchalischen Strukturen umzugehen. Und erst recht, unpopuläre Massnahmen durchzusetzen. Das sei ein Problem, das nicht nur den Sozialdienst Münsingen betreffe: «Es hat zu wenig Männer in der Sozialarbeit.» Von Känels Team besteht im Moment ausschliesslich aus Frauen.

 

Ein anderes grosses Thema, das ihn beschäftigt, ist die überlastete Psychiatrie: «Die Unterversorgung vor allem bei Jugendlichen bereitet mir grosse Sorgen.» Es sei enorm schwierig, Menschen mit Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen auf dem Sozialdienst adäquat zu betreuen. Der Kostendruck bewirke jedoch, dass Patient:innen nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie oft zu früh wieder nach Hause entlassen werden. «Und bei der ambulanten Versorgung fehlt es ausgerechnet an Jugendpsychiater:innen, und die Wartezeiten in der Psychiatrie sind viel zu lang.»

 

Sozialdienst extra nicht abschotten

Keine schlaflosen Nächte hingegen hat Martin von Känel bezüglich der Sicherheit. Ob er in Münsingen nach dem Vorfall vom letzten Jahr Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat? Er verneint: Der Sozialdienst hat zwar seit acht Jahren als minimale Abgrenzung einen Schalter, so dass nicht mehr alle einfach in die Büros spazieren können. «Aber mehr abgrenzen möchte ich ihn extra nicht: Erhöhte Sicherheitsmassnahmen erhöhen auch die Aggressivität!»

 

Trotz unzureichender Mittel und steigender Ansprüche findet von Känel, es sei ein Privileg, im öffentliche Sozialdienst arbeiten zu dürfen. Immer wieder gebe es Reaktionen, wie er sie unlängst erlebte: «Ein Vater dankte mir dafür, dass ich vor über 20 Jahren seine Kinder fremdplatziert habe, denn das habe sich als bester Schritt für die Familie erwiesen», erzählt er.

 

Trotz Weihnachtsbelastung: «Sehr befriedigende Aufgabe»

Insgesamt erlebe er oft, wie anfangs unpopuläre Entscheide letztlich für alle zum Guten führen, freut sich Martin von Känel. Seine Aufgabe sei sehr befriedigend, und das hilft ihm durch anstrengendere Phasen. Beispielsweise durch die Zeit vor Weihnachten, wenn die Stimmung häufig angespannt ist: «Fast jedes Jahr erleben wir in diesen Tagen irgendeine hektische Situation.» Die dunklen Tage, erklärt er, würden vielen aufs Gemüt schlagen und Depressionen verstärken. «Ausserdem ziehen viele Leute eine Art Jahresbilanz, und Brüche in der Familie können sich besonders schmerzhaft bemerkbar machen, wenn dadurch Familienfeste gestört werden.»

 

Auch mit all den wechselhaften Erfahrungen klingt von Känels Fazit nach all den Jahren dennoch zuversichtlich: «Trotz aller Belastungen lohnt es sich, weiterhin eine gute Portion <feu sacré> in die Sozialarbeit einzubringen.» 


Autor:in
Claudia Weiss; claudia.weiss@bern-ost.ch
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Erstellt: 19.12.2023
Geändert: 19.12.2023
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