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Munitionslager: Nur noch kurz Mitholz retten
Brigitte Rindlisbacher soll Mitholz vor einer erneuten Explosionskatastrophe bewahren. Bundesrat Guy Parmelin (SVP) hat sie für diesen Job sogar aus der Pension zurückgeholt.
Eigentlich hätte sich Brigitte Rindlisbacher ein schönes Leben machen können. Die Pension geniessen, Dolcefarniente. Ab und zu ein bisschen Golf spielen oder ein bisschen spazieren gehen. Doch stattdessen will die 65-Jährige nur noch kurz Mitholz retten. Dort, zwischen Frutigen und Kandersteg, liegen Tausende Bomben unter Fels begraben, die irgendwann in die Luft fliegen könnten. Damit das nicht geschieht, wurde Rindlisbacher aus dem Ruhestand zurückgeholt. Eine Herkulesaufgabe fünf Jahre vor dem 70. Geburtstag? Warum nicht.
Ihr sei in den letzten Jahren ein wenig langweilig geworden, sagt die ehemalige Generalsekretärin von Bundesrat Ueli Maurer (SVP). Denn gearbeitet habe sie immer gerne. Ende 2015 jedoch, als Guy Parmelin (SVP) das Zepter im Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) übernommen hatte, musste Rindlisbacher unfreiwillig abtreten. Vorzeitiger Ruhestand hiess es für die Karrierefrau von da an.
Bis ebendieser Parmelin im vergangenen Juni wieder an ihre Tür geklopft und sie gebeten hat, die Arbeitsgruppe Mitholz zu leiten. Die Aufgabe: herausfinden, wie die Bevölkerung im Oberländer Ort vor einer Katastrophe geschützt werden kann.
Schlaflose Nächte
Leicht sei ihr der Entscheid nicht gefallen. «Ich musste einige Tage überlegen, bevor ich zugesagt habe. Aber die Herausforderung hat mich sehr gereizt», sagt Rindlisbacher, die heute in Rüfenacht lebt. Während normale Rentner bei einer «Herausforderung» an den nächsten 1000-Seiten-Roman denken, ist dies bei Rindlisbacher eine von einem deutschen Bombenentschärfer in einem Interview als «Horrorszenario» bezeichnete hochexplosive Hinterlassenschaft aus dem Zweiten Weltkrieg.
«Natürlich könnte einen die Problematik beinahe erschlagen, und es gibt auch schlaflose Nächte», sagt sie. In solchen Momenten beruhige sie die Gewissheit, dass sie auf gute Mitarbeiter zählen könne und die Munition seit 70 Jahren im Fels liege, ohne dass etwas geschehen sei. «Und das trotz Sprengungen für die Armeeapotheke oder anderen Bauarbeiten in der Umgebung.»
Dass derzeit noch gänzlich unklar ist, wie das Risiko verringert werden kann, schreckt Rindlisbacher nicht ab. Im Gegenteil. Schon ihr ganzes Arbeitsleben habe sie jene Dossiers besonders interessiert, bei dem ein Problem auf dem Tisch lag, die Lösung aber noch unbekannt war.
An den Bomben von Mitholz hat sie nicht nur ein professionelles Interesse. Ihre Familiengeschichte ist damit verbunden. Aufgewachsen ist Rindlisbacher in Merligen am Thunersee. Die Eltern und die Grosseltern führten dort eine Autogarage, der Grossvater hatte als einer der wenigen in den 1940er-Jahren bereits ein Boot. «Deshalb half er nach der Explosion in Mitholz 1947 mit, die Überreste der Munition im See zu versenken.» Dies habe sie als kleines Mädchen erfahren. Damals kam sie das erste Mal mit der Thematik in Berührung.
Ungutes Gefühl
Bei Munition und Bomben denken die meisten Menschen an Krieg und Zerstörung. Für Rindlisbacher gibt es auch noch eine andere Seite. Sie spricht von viel «Herzblut und viel Engagement», das sie in ihren 25 Jahren im VBS in dieses Thema investiert habe. So war die studierte Chemikerin beispielsweise ab 1992 bei den Abklärungen zur Munition in den Schweizer Seen an vorderster Front mit dabei. Das Schlussprojekt von 2006 bis 2010 lag sogar in ihrer Verantwortung.
Dort traf sie denn auch erneut auf die Bomben aus Mitholz, die einst teilweise der eigene Grossvater über Bord geworfen hatte. Und jetzt, im Ruhestand, taucht diese Munition wieder in Rindlisbachers Leben auf.
Erst letzte Woche ist sie das erste Mal in den dunklen Stollen von Mitholz gewesen. Als sie gesehen habe, wie die Munition von Steinen begraben ist, habe sie dreimal leer schlucken müssen. «Der Besuch bestätigte meinen Eindruck, dass es sehr schwierig werden könnte, eine Lösung zu finden», so Rindlisbacher. Auch wohl sei ihr im ehemaligen Munitionsdepot nicht gewesen. Das lag aber weniger an den Hunderten Tonnen Sprengstoff. «Ich war noch nie gerne in unterirdischen Anlagen, da ich ein wenig an Klaustrophobie leide.»
Keine Vergleiche
Für die anstehenden Arbeiten würden ihr die Erfahrungen aus der Untersuchung der Munition in den Schweizer Seen helfen, ist Rindlisbacher überzeugt. «Ich hatte damals mit vielen Experten zu tun und konnte mir ein grosses Netzwerk aufbauen. Darauf kann ich zurückgreifen.» Ansonsten lehnt sie aber Vergleiche zwischen der Situation in Mitholz und jener in den Seen ab. Zu unterschiedlich seien Ausgangslage und Rahmenbedingungen.
2012 kamen die Experten und der Bundesrat zum Schluss, dass die Bomben nicht geborgen werden. Auch wenn die Seen sicher nicht der ideale Deponiestandort sind. Begründet wurde der Entscheid etwa damit, dass keine Schadstoffe freigesetzt, eine Bergung Jahrzehnte dauern, grosse Explosionsgefahr bestehen und die Kosten horrend ausfallen würden.
In Mitholz könne heute einzig gesagt werden, dass ebenfalls keine Schadstoffe aus den Bomben ausgeschwemmt werden. Das haben Grundwasseruntersuchungen gezeigt. Alles andere müsse zuerst abgeklärt werden, so Rindlisbacher. Sie sieht denn auch gewichtige Unterschiede zu ihrer früheren Untersuchung. Insbesondere: Die Munition im See gefährdet niemanden. In Mitholz aber leben rund 150 Menschen im Gefahrenbereich. Zudem gehe dort die Korrosion der Bomben schneller vor sich, weil diese stärkeren Kontakt mit Sauerstoff hätten. Das erhöht die Gefahr einer Explosion mit der Zeit zusätzlich.
Nichts tun kommt diesmal also nicht infrage.
Alles ist denkbar
Tabus gebe es ansonsten keine. Auch eine noch so abstrus erscheinende Lösungsvariante müsse in Betracht gezogen werden. «Zwischen einem – salopp gesagt – Einbetonieren und einer vollständigen Räumung ist alles denkbar», sagt Rindlisbacher. Auch eine kontrollierte Sprengung des gesamten Munitionsdepots schliesst sie nicht aus.
Als Erstes werde nun geklärt, wie die Stollen künftig überwacht werden könnten, um ein Ereignis frühzeitig zu erkennen. Wie das funktionieren könnte, sei hingegen noch nicht klar. Zudem will Rindlisbacher eine genaue Zusammenstellung über die Art und Menge der Munition und der darin enthaltenen Schadstoffe, die potenziell in die Umwelt gelangen könnten. Erst danach könnten mögliche Lösungen detailliert entwickelt werden.
Dann dürfte sich auch zeigen, ob ein Zubetonieren überhaupt möglich ist. Oder ob, wie der deutsche Bombenentschärfer befürchtet, irgendwann doch noch krebserregende Stoffe ins Grundwasser gelangen könnten. «Da es keine vergleichbaren Situationen gibt, müssen wir auch in Kauf nehmen, dass wir bei der Lösungssuche in eine Sackgasse geraten. Dann müssen wir einen neuen Weg einschlagen», so Rindlisbacher.
Noch kein «Schlussbericht»
Bereits heute ist klar, dass es lange dauern wird, bis in Mitholz die Gefahr für die Bevölkerung gebannt ist. «Wir haben keinen Zeithorizont», sagt Rindlisbacher. Deshalb sei ihr die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung vor Ort und allen involvierten Stellen ein zentrales Anliegen. «Alle sollen in regelmässigen Abständen erfahren, wo wir stehen.»
Mit Spannung erwartet wird der Schlussbericht der Expertengruppe. Dieser soll im September vorliegen. Wobei «Schlussbericht» für Rindlisbacher die falsche Bezeichnung ist. «Das ist eine momentane Risikobeurteilung. Schluss ist dann noch lange nicht.»
Für sie als ungeduldigen Menschen könnte ein derart offen angelegtes Projekt im Ruhestand zur Belastungsprobe werden. «Es stimmt, ich bin nach wie vor ungeduldig. Ich habe aber gelernt, dass es nicht immer so schnell vorwärtsgeht, wie ich mir das manchmal wünsche», sagt sie. Ihre Ungeduld könne in Mitholz auch ein Vorteil sein: «Ich drücke, schaue, dass immer etwas läuft.» Irgendwann möchte schliesslich auch Rindlisbacher wieder mehr Zeit fürs Golfen haben.
NEUE ERKENNTNISSE
Vor den Sommerferien informierte der Bundesrat in Mitholz die lokale Bevölkerung: Das Risiko, das vom ehemaligen Munitionsdepot ausgeht, ist grösser als bisher angenommen. Denn noch immer werden rund 3500 Tonnen Munition vermisst, Tausende 50-Kilogramm-Fliegerbomben sind in den unterirdischen Stollen verteilt. Die neuen Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Felssturz, ein Einsturz von Anlageteilen oder eine Selbstzündung verschütteter Munitionsbestandteile eine Explosion auslösen könnten. Das weckt Erinnerungen an 1947: Damals explodierte ein Teil des Lagers mit 7000 Tonnen Patronen, Geschossen und Bomben. 9 Bewohner starben, Dutzende wurden schwer verletzt. Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Brigitte Rindlisbacher klärt derzeit das weitere Vorgehen ab (siehe Haupttext). Sofortmassnahmen sind nicht nötig. mab
Erstellt:
23.08.2018
Geändert: 24.08.2018
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