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Oberdiessbach - Der Mann für alle Felle

Quelle
Thuner Tagblatt

Julian Krötz hat sich für einen nicht alltäglichen Beruf entschieden – bei der Firma Neuenschwander erlernt er das Handwerk des Gerbers. Der unverwechselbare Geruch in der Werkstatt oder Tierquälereivorwürfe halten Krötz nicht davon ab, seiner Berufung nachzugehen.

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In seinem Element: Julian Krötz in der Firma Neuenschwander in Oberdiessbach. (Fotos: Fritz Lehmann)
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Julian Krötz entfernt an der Entfleischungsmaschine die nach dem Weichen übrig gebliebenen Fett- und Fleischpartikel.
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Nach dem Gerbvorgang werden die Felle auf dem Spannrahmen in ihre natürliche Form gebracht und in einem geheizten Raum getrocknet.
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Im sogenannten Haspeltrog werden Felle eingeweicht. Dadurch wird der natürliche Quellungszustand der Haut vor der weiteren Verarbeitung wiederhergestellt.
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Jürgen Krötz
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Bernhard Neuen­schwander
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Als kleiner Junge verbrachte Julian Krötz seine Sonntage an einem ungewöhnlichen Ort: Er begleitete so oft wie möglich seinen Vater Jürgen an dessen Arbeitsplatz – eine Gerberei im deutschen Murrhardt. «Ich war schon von klein auf fasziniert von dem Beruf, weil er aussergewöhnlich ist», sagt Julian Krötz. Heute ist er 19 Jahre alt – und im letzten Jahr seiner dreijährigen Ausbildung zum Gerber bei der Firma Neuenschwander in Oberdiessbach. Wäre es nach seinem Vater gegangen, hätte Krötz einen anderen Beruf erlernt. So habe dieser nicht gewollt, dass Krötz junior ihn in die Firma begleite – wollte er doch seine spätere Berufswahl nicht beeinflussen. «Irgendwann musste er einlenken, weil ich immer wieder gefragt habe», sagt Julian Krötz.

Der Gerberberuf ist Tradition in der Familie Krötz: Bereits der Grossvater arbeitete 40 Jahre lang in der Pelzveredelungsbranche. «Man muss da reinwachsen, für jemand Aussenstehendes ist es schwierig, den Weg in unsere Branche zu finden», ist Vater Jürgen Krötz (53) überzeugt. Das wundert wenig: Die Arbeit eines Gerbers ist körperlich anstrengend, «und man wird auch mal etwas dreckiger», sagt Julian Krötz und lacht. Ihm mache das nichts aus. Ebenso wenig der markante Geruch: Jener liegt im ganzen Gebäude vor – vor allem in der Wasserwerkstatt, wo Vater und Sohn einen Grossteil des Tages verbringen. Daran könne man sich gewöhnen, erklärt Julian Krötz. «Er macht sich gut», sagt sein Vater, der im Betrieb auch als Ausbildner des Sohnes fungiert. Besonders konzentriert arbeite er an der Dünnschneidemaschine (vgl. Kasten), ein Arbeitsschritt, den nicht jeder Gerber erlerne: «Das ist die Königsdisziplin im Gerberhandwerk.»

Einer von 54

Neben Julian Krötz gibt es in Europa noch 17 weitere angehende Gerber im dritten Lehrjahr, insgesamt erlernen 54 Personen den Beruf – ausgebildet werden sie blockweise in der letzten europäischen Berufsschule für Gerber in der Nähe von Stuttgart. In der Schweiz ist Krötz der einzige Gerberlehrling – der letzte wurde vor über 25 Jahren ausgebildet, ebenfalls bei der Firma Neuenschwander. «Das Handwerk geht verloren», sagt Jürgen Krötz. «Während der letzten 20 Jahre war die Fellverarbeitungsindustrie ein grosses gesellschaftliches Tabu.» Spezialisten wurden pensioniert, viele Dokumente wurden vor Jahrzehnten vernichtet, in der Annahme, das Handwerk werde nicht weiter bestehen. Jenes Wissen fehlt nun. Dabei ist die Branche aktuell im Aufschwung (vgl. Kasten).

Gefragte Spezialisten

Oft würden angehende Berufsleute bereits an der Berufsschule von Unternehmen angeworben, da Spezialisten rar und gefragt seien, sagt Jürgen Krötz. Für ihn und seinen Sohn bedeutet dies genug Arbeit und damit eine sichere Zukunft: «Ich weiss, dass ich hier bis zu meiner Pensionierung arbeiten kann. Und Julian wird das ebenfalls können», sagt der Vater, der heute sichtlich stolz darauf ist, dass sein Sohn in seine Fusstapfen getreten ist. Bernhard Neuenschwander, Geschäftsführer der Firma, spürt vom Fachkräftemangel wenig. Aktuell ist neben Jürgen Krötz sogar ein zweiter Gerbermeister in der Firma tätig. «Ausserdem möchten wir Julian nach seiner Lehre bei uns behalten. Zuvor wird er aber Lehr- und Wanderjahre machen und Erfahrungen im Ausland sammeln», erklärt Neuenschwander. Das sei in der Branche gang und gäbe. Julian Krötz zieht es unter anderem nach Mexiko, wo er in Grossbetrieben arbeiten möchte. Dort wird er andere Gerbetechniken lernen und dabei Informationen für die Firma Neuenschwander sammeln: «Ich will sehen, was draussen in der Welt vor sich geht», sagt er.

«Rohstoff wie jeder andere»

Wenn er erzähle, dass er Gerber sei, so Julian Krötz, so würden die Reaktionen darauf völlig unterschiedlich ausfallen. «Leute in meinem Alter haben oft noch nie von dem Beruf gehört.» Dies passiere ihm mit älteren Personen selten. Doch auch wenn sein Gegenüber wisse, was ein Gerber mache, sei das Echo durchzogen: «Manche haben ein völlig falsches Bild, stempeln uns als Tierquäler ab.» Ähnliche Erfahrungen machte auch Jürgen Krötz, besonders in jener Zeit, in der er in der Edelpelzbranche tätig war. «Dieser Markt hat sich inzwischen komplett nach China verlagert.» Diese Gründe bewegten Krötz 2014 dazu, bei Neuenschwander anzuheuern. «Die Edelpelzindustrie ist ein schmutziges Geschäft. Hier dagegen stellen wir aus Schlachtabfällen qualitativ hochwertige Produkte her.» Das könne er gut mit seinem Gewissen vereinbaren. Auch Julian sieht keine moralischen Probleme in der Fellverarbeitung: «Während der Arbeit denke ich nicht daran, dass das Fell zu einem lebendigen Tier gehört hat. Da ist es ein Rohstoff wie jeder andere.»

Das Video und weitere Bilder zum Artikel finden sie auf unserer Website. Infos zur Firma Neuenschwander unter www.neuenschwander.ch.

DAS HANDWERK

«Jede Gerberei in der Schweiz hat heute eine gesicherte Zukunft»

Der Begriff Gerben bezeichnet die Verarbeitung von rohen Tierhäuten zu Leder. Es ist eines der ältesten erhaltenen Handwerke. «Viele Arbeiten können nicht von Maschinen erledigt werden – ein Gefühl für das Material ist beim Gerben unabdingbar», sagt Bernhard Neuenschwander (53), Geschäftsführer der Firma Neuenschwander. Um den Betrieb am Laufen zu halten, brauche es mindestens einen ausgelernten Gerber. Weitere Mitarbeitende können durch ihn angelernt werden.

Für den Gerbevorgang müssen die Felle erst einweichen, dann werden Fleischreste entfernt. Die anschliessende Fettung ermöglicht, dass Gerbstoffe während des Gerbevorgangs gleichmässig aufgenommen werden. Bevor dieser durchgeführt wird, erfolgt das Dünnschneiden – das Fell wird auf seine optimale Dicke zugeschnitten. Dann wird es rund einen Tag in Gerbstoffe eingelegt. So werden Hautfasern vernetzt und die Fäulnisentwicklung gestoppt. Nach dem Gerben werden die Felle entwässert, auseinandergezogen und zum Trocknen aufgespannt. Je nach Verwendungszweck müssen sie zugeschnitten werden, bevor sie ein weiteres Mal gereinigt werden. Gewebereste werden entfernt, anschliessend wird die Wolle gekämmt, geschoren und gebügelt. Zuletzt durchlaufen alle Felle eine Endkontrolle.

«Heute hat jede der wenigen Gerbereien, die es in der Schweiz noch gibt, eine gesicherte Zukunft. Vor 40 Jahren sah das anders aus: Viele Betriebe mussten schliessen, weil Aufträge ausblieben», sagt Bernhard Neuenschwander. Heute herrsche tendenziell ein Streben zurück zur Natur, Lederprodukte – ausgenommen Edelpelze – seien nach wie vor in der Gesellschaft etabliert. «Ein Problem bekommt unsere Firma erst, wenn überhaupt kein Fleisch mehr gegessen wird.» Ihre Produkte fertigt die Firma Neuenschwander ausschliesslich aus Schlachtnebenprodukten. «Schaffelle importieren wir zusätzlich aus Neuseeland und Australien, da diese qualitativ hochwertiger sind», erklärt Bernhard Neuenschwander. Eine fünfstellige Zahl an Schaffellen verarbeitet die Firma pro Jahr, dazu zahlreiche weitere Felle von anderen Tieren. jzh


Autor:in
Janine Zürcher, Thuner Tagblatt
Nachricht an die Redaktion
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Erstellt: 08.05.2018
Geändert: 08.05.2018
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