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Pfarrer Voellmy: «Die Sintflut hat gezeigt, wie es rauskommt, wenn Gott eingreift»
Kurz vor Weihnachten haben wir uns mit Pfarrer Giancarlo Voellmy in Linden getroffen. BERN-OST wollte von ihm wissen, warum Gott diese Kriege zulässt, ob Jugendliche noch lesen können und welche neun Sprachen er spricht.
Wir treffen uns im Pfarrhaus in Linden und sitzen im Wohnzimmer der Familie Voellmy bei einem Espresso. In der Ecke stehen ein Klavier und verschiedene Instrumente, beim Blick aus dem Fenster sieht man die Kirche von Linden. Pfarrer Giancarlo Voellmy habe ich am Rande einer Gemeindeversammlung in Linden kennengelernt, damals fragte ich ihn, ob wir mal ein Gespräch über Gott und die Welt führen könnten. Er sagte spontan zu.
BERN-OST: Giancarlo Voellmy, was bedeutet die Adventszeit für Sie?
Giancarlo Voellmy: Für uns Christen ist es der Aspekt des Wartens auf die Wiederkunft von Christus, es gibt noch etwas danach, es ist nicht einfach fertig. Für mich ist es eine Vorbereitung auf Weihnachten, wir singen zuhause Adventslieder und haben ein Adventsfenster beim Pfarrhaus. Wir schauen auch, dass wir andere Adventsfenster besuchen können. Der Advent soll eine Zeit sein, um sich auf die Feier einzustimmen.
Statt Ruhe, Besinnung und Vorfreude ist es für viele Leute eine stressige Zeit.
Das hat schon auch mit der Kommerzialisierung zu tun. Dazu kommt wohl die Illusion, dass wenn die Festtage kommen, man diese auch gebührend feiern will. Es wird viel organisiert und vor lauter Geniessen kann es zu einem Stress werden.
Wie sind Sie zur Theologie gekommen, gab es ein Schlüsselerlebnis?
Ich komme aus einem christlich geprägten Elternhaus, wurde kirchlich getauft und bin freikirchlich aufgewachsen. Im Gymer entschied ich mich für Naturwissenschaften und Griechisch und hatte Spass an der Sprache. Ende Gymer merkte ich, dass ich alle Voraussetzungen habe, um in der Theologie einzusteigen. Physik hätte mich auch interessiert, habe mich dann aber für das Mensch-Orientierte entschieden.
Nach den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche ist es auch dieses Jahr zu vielen Kirchenaustritten gekommen. Spüren Sie das in Linden auch?
Das wäre mir nicht bewusst. Wir sprechen zwar oft darüber, doch fände ich es schwach, wenn wir Reformierten auf die katholische Kirche zeigen würden. Wir sollten nie schadenfreudig auf andere zeigen. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir zu allem fähig sind. Was wir wissen müssen, ist: Es betrifft vor allem Männer. Ich würde das auch nicht nur der katholischen Kirche anlasten, das passiert leider an vielen Orten. Die richtige Haltung ist, daran zu arbeiten.
Spüren Sie anhand der Kirchenbesuche, wie es der Bevölkerung geht? Oder ist bei Ihnen die Kirche immer voll?
In der Coronazeit, als es wieder möglich war, Gottesdienste zu halten, spürte man sehr klar, dass die Leute froh darüber waren und die Kirche besuchten. Damals gab es schon Momente, an denen mehr in die Kirche kamen. Ansonsten ist der Gottesdienst anlassgebunden, es kommt auf die Jahreszeit, auf Feiertage an. Gibt es eine Taufe oder ist ein Verein beteiligt, dann kommen die Leute stärker, als wenn ein normaler Sonntagsgottesdienst stattfindet.
Sind die Gottesdienste in Linden gut besucht?
Um die 20 bis 30 Personen haben wir jeden Sonntag, dann kommts drauf an, was sonst noch los ist. Weihnachtsgottesdienste sind immer gut besucht. Wir haben zwei Gottesdienste am 24. und einen am 25. Dezember.
Werden die alle von Ihnen gehalten?
Nein, am 25. hält mein Kollege Patrick Moser den Gottesdienst. Ich hatte mein Pensum etwas reduziert, da ich in den letzten Jahren noch eine Doktorarbeit geschrieben habe.
Worüber haben Sie diese geschrieben?
Über den Propheten Ezechiel, im Januar halte ich noch eine Vortragsserie darüber.
Haben Sie Neues über ihn herausgefunden?
Ja, ich habe schon neue Aspekte entdeckt. Ich habe vor allem darüber geforscht, wie Ezechiel die Welt sah, damals um 600 vor Christus. Er lebte in einer Zeit, als die damalige Bevölkerung von Jerusalem von den Babyloniern unterworfen und deportiert wurde.
Sie unterrichten auch Konfirmanden, also 7. bis 9. Klässler. Kürzlich schnitten Schülerinnen und Schüler schlecht ab bei der PISA-Studie, was das Lesen angeht. Haben Sie dies bei den Konfirmandinnen auch bemerkt?
Ich wollte immer mit ihnen Texte lesen, um darüber zu diskutieren. Ein Wunsch war auch, dass die Konfirmanden mehr Texte schreiben, aber ich habe das aufgegeben.
Warum, wollten sie nicht mitmachen?
Nein, sie hätten schon mitmachen wollen, aber sie konnten das schlicht nicht. Längere Texte schreiben ging überhaupt nicht. Darüber habe ich mir viele Gedanken gemacht, mich schmerzt das, da ich immer sehr sprachaffin war.
Wie viele Sprachen sprechen Sie?
Alte Sprachen spricht man nicht, man liest und übersetzt sie. Gelernt habe ich Griechisch, Alt-Hebräisch, Aramäisch, Lateinisch, Französisch, Englisch, Italienisch, ein wenig Russisch und Deutsch.
Wow, ich bin beeindruckt! Zurück aber zu den Problemen der Schule.
Ich denke, in der Schule wird heute zu breit unterrichtet. Wichtig wäre, dass sie lesen, schreiben, rechnen und zuhören lernen. Das wäre schon gut.
Eine Frage zur aktuellen Politik: Die Kantonsregierung diskutiert, ob Firmen keine Kirchensteuer mehr bezahlen müssen. Wie haben Sie reagiert, als Sie davon gehört haben?
Es ist Geld, das der Kirche fehlen wird. Die Kirchensteuer kommt heute der Gemeinnützigkeit zugute. Damit werden Jugendarbeit, Diakonie und soziales Engagement gefördert. Das Geld juristischer Personen wird sowieso nicht mehr fürs Kultische verwendet. Der Vorstoss fordert, dass sich der Kanton zunehmend aus kirchlichen Angelegenheiten zurückzieht. Die Kirche muss deswegen nicht auf die Barrikaden, wir sind schliesslich kein christliches Land mehr. Wir müssen das als Challenge aufnehmen und den Unternehmen zeigen, dass es sich lohnt, ihren Beitrag auch freiwillig zu leisten.
Wie geht es der Welt heute?
Wie immer. Wir leben in einem Medienzeitalter, einem Zeitalter der Gleichzeitigkeit von allem. Damit können nicht alle umgehen. Die einen nützen dies, um sich über alles zu informieren und überfordern sich. Die anderen dröhnen sich zu mit leeren Botschaften und blöden Videos und kapseln sich ab. Aber eigentlich lief es immer gleich. Wir haben jetzt in der Ukraine einen Krieg, der in der Nähe stattfindet und neu auch in Israel. Aber sind wir ehrlich, es gibt viele andere Kriege an Orten, wo wir denken, es sei ruhig. Gleichzeitig läuft auf der Welt viel Gutes, Menschen, die sich für andere einsetzen, Weihnachten wird gefeiert und bringt die Menschen zusammen.
Wie erklären Sie einem zehnjährigen Kind aus der Ukraine, das seine ganze Familie verloren hat, dass es einen Gott gibt?
Das Dümmste wäre es, so einem Kind den Glauben zu nehmen. Den braucht das Kind, um zu überleben, es gibt nichts Hoffnungsvolleres als den Glauben dieses Kindes. Die christliche Botschaft ist: Auf dieser Welt läuft vieles schief. Es sind oft die Mächtigen, die mit Unrecht zu ihrem Glück kommen. Auf der anderen Seite haben wir die Unterlegenen, die leiden. Aber Gott stellt schliesslich jeden an seinen Platz. Es gibt eine letzte Gerechtigkeit, vielleicht nicht hier, aber wir dürfen darauf hoffen, dass es einen letzten Richter gibt, der jedem Menschen das gibt, was er verdient. Das kann einem Kind Kraft geben, auch wenn es dies momentan nicht so erlebt.
Warum lässt Gott dies zu?
Über Gottes Wege mit dieser Welt müssen wir nicht diskutieren. Sind wir doch ehrlich, wenn wir das Unrecht anschauen, reicht für mich die Erklärung, dass primär Menschen dahinterstecken, nicht Gott. Gott wäre mächtig genug, dies zu lösen. Die Geschichte der Sintflut hat gezeigt, wie es rauskommt, wenn Gott Tabula rasa macht. Das wäre nicht in unserem Interesse. Die Sintflut ist vergleichbar mit Hiroshima. Die Atombombe hat den zweiten Weltkrieg beendet, aber danach war es nicht besser als vorher. Deshalb sagte sich Gott, das mache ich nicht mehr.
Zweifeln Sie manchmal auch an Gott?
Kein Mensch hat keine Zweifel.
Die Kirche Linden erhält eine neue Glocke, zusätzlich zu den beiden bestehenden wird eine dritte Glocke installiert. Wann ist es so weit?
Wir diskutieren noch über die Gestaltung der Glocke und überlegen uns, wie wir das Kirchenvolk ins Sponsoring der Glocke einbeziehen können. Es geht eher ums Symbolische, wer sich beteiligen will, soll dies können. Wenn alles abgeklärt ist, werden wir die Glocke bestellen. Das Ziel ist, dass die Glocke zum 175-Jahr-Jubiläum der Kirche am Bettag eingeweiht werden kann.
[i] Giancarlo Voellmy (52) ist in Rheinfelden aufgewachsen und studierte Theologie in Basel und im französischen Vaux-sur-Seine. Seit 2017 ist Voellmy Pfarrer in Linden, er doziert über das Alte Testament am Seminar für biblische Theorie in Beatenberg und schliesst demnächst seine Doktorarbeit an der Uni Bern ab mit einer Dissertation über den Propheten Ezechiel. In seiner Freizeit spielt Voellmy Cello, segelt, fährt Velo und ist als Imker tätig. Bevor er nach Linden kam, war er Pfarrer in Unterlangenegg. Giancarlo Voellmy ist verheiratet und hat mit seiner Frau zusammen fünf Kinder zwischen 12 und 26 Jahren.
[i] Am 24. Dezember um 16 Uhr findet in der Kirche Linden erst ein Familiengottesdienst statt. Später am 24. Dezember, um 22:30 Uhr, lädt die Kirche Linden zur Christnacht Feier.
Am 25. Dezember, morgens um 9:30 Uhr findet ein Festgottesdienst mit Abendmahl statt.
[i] Die Vorträge von Giancarlo Voellmy über den Propheten Ezechiel finden an drei Abenden im Kirchgemeindehaus Linden statt:
25. Januar, 15. Februar und 7. März 2024, jeweils um 20 Uhr.
Erstellt:
23.12.2023
Geändert: 23.12.2023
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