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30 Jahre Rüttihubelbad: "Ich weiss, dass es auch weitergeht, wenn ich einmal nicht mehr bin"

Am Samstag feiert das Rüttihubelbad in Wikartswil seinen 30. Geburtstag. Charlotte Sidler (94) war eine der ersten Bewohnerinnen des Altersheims. BERN-OST erzählt sie, wie es sich dort lebt.

Die ehemalige Lehrerin Charlotte Sidler in der Bibliothek, die sie mitaufgebaut hat. (Bilder: Anina Bundi)
Das Zimmer hat einen eigenen Balkon und Sicht ins Grüne. Auf dem Tisch aktuelle Handarbeiten.

"Ich kam mit 66 Jahren hierher. Das war im Jahr 1993. Der Grund war ganz einfach: Ich brauchte eine Bleibe. Eigentlich hatte ich lebenslanges Wohnrecht im Haus meines verstorbenen Mannes. Bei den Erbstreitigkeiten, die auf seinen Tod folgten, hatte ich als zweite Ehefrau aber einen schweren Stand. Das Haus wurde schliesslich verkauft und ich entschied mich, ins Rüttihubelbad zu ziehen. Ich bin froh, dass ich mich eigenständig für den Umzug hierher entscheiden konnte. Schlimm ist, wenn jemand plötzlich reif ist fürs Altersheim und dann hergebracht wird.

 

Was mir von Anfang an gefallen hat, ist, dass ich hier nicht einfach nur reinsitzen musste, sondern mitarbeiten konnte. Ich hatte immer gearbeitet, ich bin Lehrerin. Zuerst half ich in der Küche aus. Später fing ich an, die fremdsprachigen Mitarbeiter:innen in Deutsch zu unterrichten. Anfangs waren da eine Pflegerin aus dem Tessin, später kamen Leute aus dem Kosovo, aus Afghanistan, Peru und Tibet. Mittlerweile ist der Unterricht professionell organisiert.

 

"Man ist hier sehr frei"

Als ich herkam, kannte ich niemanden. Ich empfand das als positiv und fühlte mich dadurch frei. Mit der Zeit ergaben sich aber Verbindungen, insbesondere auch durch den Sprachunterricht. Wir haben einen guten Umgang miteinander und helfen einander, so wie unter Nachbar:innen. Auch die Pflegenden geben mir ein gutes Gefühl. Viele von ihnen haben eine schöne Gelassenheit. Ich merke, dass wir wahrgenommen werden in unserer Entwicklung und das gibt mir Vertrauen.

 

Am Anfang, war das Anthroposophische noch stärker zu spüren. Mit einigen anderen gründeten wir einen "Zweig" der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und organisierten Treffen und Andachten. Später half ich auch mit, eine Bibliothek und ein Antiquariat einzurichten und war in der Kulturgruppe. Man ist hier sehr frei. Wenn man eine Idee hat, kann man sie unkompliziert realisieren. Vieles geht wie von selber.

 

Zuerst wohnte ich im Altersheim. Als nach einigen Jahren das Hotel schloss, zog ich dort in eine Zimmer mit Dienstleistungen. Ich kann selber für Frühstück und Abendessen sorgen und auch meine Wäsche selber machen. Damit bin ich freier. Pflege brauche ich noch nicht.

 

"Rien ne va plus" - und dann geht es doch wieder

Mein Tag fängt sehr früh an, ich stehe um halb sechs auf. Ich nehme Zmorge und mache mein Zimmer. Um acht Uhr gehe ich immer für einen Moment in den Dachraum, um für mich zu sein. Mitarbeiten tue ich nicht mehr gross. Manchmal, wenn ich aufstehe, denke ich: "Rien ne va plus", aber dann geht es doch wieder. Was ich noch gut kann, ist Handarbeiten, also lismen und häkeln. Und wenn die Wäscherei etwas hat, das kompliziert ist zu flicken, landet es auch oft bei mir. Um halb neun bin ich im Bett.

 

Ausflüge mache ich fast nur noch hier auf dem Gelände. Die Umgebung ist sehr schön, und es gibt Vieles zu sehen. In der Stadt oder auch nur in Worb war ich jetzt schon lange nicht mehr. Weil ich nirgends mehr hingehe, habe ich mich auch nicht impfen lassen. Ideologische Gründe hat der Entscheid keine, ich sehe ja, dass die Impfung greift und dass die Situation dadurch besser wurde.

 

Ich bin in einem Zeughaus aufgewachsen. Die langen Gänge hier mag ich daher sehr, gerade weil ich nicht mehr viel rausgehe. Ich weiss von anderen, die sie etwas beängstigend finden. Als ich noch mehr unterwegs war, ging ich gern in andere Altersheime zu Besuch, ich bin neugierig, und muss sagen, dass es mir hier schon sehr gefällt. Andernorts sind die Leute weniger frei. Es gibt hier auch keine geschlossene Demenzabteilung. Ich finde das schön, dass man sich für die Offenheit entschieden hat. 

 

"Wir haben hier eine schöne Sterbekultur"

Als ich herkam hätte ich nicht gedacht, dass ich so alt werde. Vor dem Tod habe ich kaum Angst. Wir haben hier eine schöne Sterbekultur. Über jeden Tod werden wir informiert. Für die gestorbene Person wird eine Kerze angezündet. Sie bleibt nach dem Tod drei Tage in ihrem Zimmer und kann dort besucht werden. Zum Schluss gibt es dann eine kleine Andacht. Die Bewohner:innen versammeln sich im Zimmer und im Gang. Das ist immer sehr schön. 

 

Ich folge jedem Tag und jeder Stunde, wie sie sich bildet. Im Alter kann man Verantwortung abgeben, das kann ich gut geniessen. Ich weiss, dass es auch weitergeht, wenn ich einmal nicht mehr bin. Als Pädagogin habe ich das Loslassen gelernt und das hilft mir hier auch. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, stelle ich mir Fragen wie "Warum bin ich dieser Person begegnet". Ich glaube, dass alles seine Ordnung hat. Wenn ich mich erinnere, sehe ich auch, wo ich Fehler gemacht habe. Da kommt manchmal einiges hoch. Das schaue ich dann in Ruhe an und versuche, mir zu verzeihen.

 

[i] Die Stiftung Rüttihubelbad wurde 1986 gegründet mit dem Ziel, in dem ehemaligen Kurhaus ein gemeinnütziges Sozial- und Kulturwerk auf anthroposophischer Grundlage aufzubauen. 1991 zogen die ersten Bewohner:innen in das damals noch unfertige Altersheim ein. Später kamen die sozialtherapeutische Gemeinschaft, das Restaurant Hotel Rüttihubelbad und das Sensorium dazu. Heute leben im Altersheim 74 Personen, in der sozialtherapeutischen Gemeinschaft wohnen und/oder arbeiten 72 Personen. Mit insgesamt 240 Mitarbeiter:innen gehört das Rüttihubelbad zu den grössten Arbeitgeber:innen der Region.

 

[i] Das 30-Jahre-Jubiläum des Rüttihubelbads wird unter anderem mit einem Familientag am Samstag, 26. Juni gefeiert. Eintritt frei, Anmeldung ist erforderlich. Programm siehe hier und in den Veranstaltungseinträgen unten.


Autor:in
Anina Bundi, anina.bundi@bern-ost.ch
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Erstellt: 25.06.2021
Geändert: 25.06.2021
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