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Skifahrer Luca Aerni: Der Flachländer wird zum Gipfelstürmer

Quelle
Berner Zeitung BZ

Früh verliess Luca Aerni das Elternhaus in Grosshöchstetten, um seine Träume zu verwirklichen. Wie aus dem Nachwuchstorhüter des FC Schlosswil ein Weltklasse-Skirennfahrer geworden ist.

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Die Alpen am Horizont: Luca Aernis Arbeitsplatz befindet sich nicht in ­unmittelbarer ­Nähe zum Wohnort Grosshöchstetten. (Bilder: Christian Pfander, Berner Zeitung BZ)
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Generell schneller als 50: Weltmeister Luca Aerni.
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Im Vordergrund eine Brätlistelle, im Hintergrund Weideland und Hügel, am Horizont die Alpen: Das Panorama auf dem Möschberg lädt zum Verweilen, eignet sich bestens für ein Fotoshooting. Wobei die Erhebung nur nominell etwas mit einem Berg gemein hat. Die Szenerie erinnert an gemütliche Wanderungen mit den Grosseltern, das Gelände lässt auf das Hoheitsgebiet eines Mountainbikers schliessen. Der Protagonist, welcher sich für diese Zeitung in Pose setzt, hat in Kindheit und Jugend denn auch öfter auf zwei Rädern trainiert als auf jenen zwei Latten, die ihm die Welt bedeuten. Weil Grosshöchstetten lediglich auf 745 Metern über Meer liegt, für Wintersport keine Infrastruktur vorhanden ist. Luca Aerni jedoch ist Skirennfahrer, nicht irgendeiner. Der 24-Jährige darf sich Weltmeister nennen; er hat vor zwei Wochen im Slalom von Madonna di Campiglio seinen ersten Weltcuppodestplatz erreicht.

Aerni fällt es schwer, eine Antwort zu finden auf die Frage, warum ausgerechnet ihm der Durchbruch gelungen sei. «Vielleicht war es förderlich, dass ich früher nicht so häufig auf den Skiern stehen konnte. Wenn ich Ski fuhr, war ich dafür immer topmotiviert, mit Freude bei der Sache.» Alles oder nichts, liesse sich in anderen Worten sagen, das Motto gilt auch in taktischer Hinsicht. «Als Kind gewann ich hin und wieder ein Rennen, aber manchmal schied ich auch drei- oder viermal in Serie aus.» Als Platzfahrer lässt sich der Berner auch heute nicht bezeichnen.

Seine Mutter erwähnt die Verbindung aus natürlicher Zuversicht und ausgeprägtem Willen, sagt, «Luca hat nie daran gedacht, dass etwas nicht funktionieren könnte. Und wir Eltern haben kein Drama daraus gemacht, nicht gleich alles infrage gestellt, wenn er ausschied.» Im nächsten Atemzug ergänzt Silvia Aerni, sie habe in dieser Hinsicht andere Beispiele erlebt. Die Sportlehrerin spricht im Zusammenhang mit dem Werdegang ihres ältesten Sprosses von zwei wegweisenden Entscheidungen: dem Gang ins Wallis und dem Verzicht auf den Fussball.

Als Luca geboren wurde, lebte die Familie in Crans-Montana. Ein Jobwechsel des Vaters führte vier Jahre später zum Umzug nach Wattenwil, wiederum zwei Jahre später verlegten die Aernis den Wohnsitz nach Grosshöchstetten. Die winterlichen Wochenenden jedoch verbrachten sie fast ausschliesslich auf dem Hochplateau im Unterwallis, die Ferienwohnung besitzen sie heute noch. Unter der Woche fand Luca Aerni sein sportliches Glück beim FC Schlosswil, auf der anderen Seite des Möschbergs.

Er zeigt mit dem Finger auf die Bahnlinie Konolfingen–Grosshöchstetten, sagt, hinter den Geleisen sei früher ein kleiner Skilift betrieben worden, er aber nur einmal dort gefahren. Stand er im Mittelland auf Skiern, tat er dies in Marbach. Häufiger absolvierte er Trainingseinheiten auf dem Mountainbike, begleitet von seinem Vater Jean-Charles. «Wenn er nicht mitgekommen wäre, hätte ich das kaum durchgezogen. Biken gefällt mir heute deutlich besser als früher.» Lieber kickte er mit den Schulkollegen im Nachbardorf. Aerni stand im Tor, was ihm während des Erzählens den Einschub entlockt, zum Glück nicht auf den Fussball gesetzt zu haben. Er misst für Goalieverhältnisse bescheidene 1,76 Meter, meint, «das wäre nicht so gut herausgekommen».

Als 15-Jähriger verliess er das Elternhaus und dislozierte nach Brig ins Nationale Leistungszentrum West; er absolvierte die 9. Klasse in einer Sportschule. Natürlich sei dies eine radikale Veränderung gewesen, erwidert er auf die entsprechende Frage. «Aber ich wusste, dass ich es tun musste, wenn ich weiterkommen wollte.» Er sagt, die Zeit sei hart gewesen. «Aber wir waren eine coole Gruppe.» Für seine Eltern dürfte die Zeit noch ein bisschen härter gewesen sein. «Luca war von diesem Weg überzeugt, in seinen Gedanken gab es keine Alternative», resümiert Silvia Aerni, sogleich festhaltend, den Filius in guten Händen gewusst zu haben. Übernachtet habe Luca zwar im Internat, aber die Familie Marx, Freunde aus Walliser Tagen, hätten sich hervorragend um ihn gekümmert. «Luca war dort quasi das fünfte Kind».

Im Winter reisten Eltern und Geschwister an den Wochenenden an die Rennen, im Sommer weilte Aerni von Freitag- bis Sonntagabend in Grosshöchstetten – und schnürte die Fussballschule. «Als Goalie hatte ich Vorteile. Ich wurde aufgestellt, obwohl ich bei den Trainings nicht dabei war.» Den Sohn wieder auf den Bahnhof zu bringen, brach der Mutter manchmal fast das Herz. Oft habe Luca «sehr viel Gepäck» dabei gehabt, bei allfälligen Bedenken habe er eigentlich immer «Mami, das chunnt scho guet», gesagt, lässt Silvia Aerni verlauten. «Vom Heimweh, an dem er phasenweise litt, erzählte er uns erst viel später.»

Nach der Schulzeit begann Aerni in Brig eine Lehre als Detailhandelsfachmann in einem Sportgeschäft. Der Chef, ein Bekannter seines Vaters, liess ihn das 3-Jahres-Pensum in vier Jahren bewältigen. Für den Skisport blieb auf diese Weise mehr Zeit, die A-Junioren des FC Schlosswil hingegen mussten sich einen neuen Torhüter suchen. «Es ist mir einfacher gefallen als befürchtet, mit dem Fussball aufzuhören. Ich merkte in dieser Phase, dass ich ziemlich gut verzichten kann, wenn mir etwas wirklich wichtig ist.» Was ihm der Skisport bedeutet, registrierte Aerni im Februar 2009, als Didier Cuche an der WM in Val-d’Isère den Super-G gewann. «Ich war im Geschäft, sah diese krasse Fahrt am Fernseher und wusste sofort: Dieses Niveau will ich auch einmal erreichen.»

Je näher er dem Swiss-Ski-Kader rückte, desto kleiner wurden die Trainingsgruppen. Mehr als einmal erlebte Aerni im engsten Umfeld, wie erbarmungslos das System funktioniert. Laurent Marx, sein Gefährte aus erwähnter Familie, hörte auf, «weil er irgendwann schweren Herzens eingesehen hatte, dass es einfach nicht reichen würde». Marx amtet heute als Präsident von Aernis Fanclub. Audrey Chaperon aus Châtel-Saint-Denis gehörte zu den aussichtsreichsten Talenten des Kantons Freiburg. Aernis Freundin litt an immer stärker werdenden Schienbeinbeschwerden, konnte nicht mehr richtig trainieren, setzte den Punkt. «Solche Sachen tun dir extrem weh. Aber du musst sie ausblenden, das Positive bei dir sehen, für deine Vision kämpfen», sagt der Grosshöchstetter.

Doch reicht diese Gabe als Erklärung respektive Antwort auf die Frage, warum ausgerechnet er, der Flachländer, auf dem Gipfel angekommen ist? Aerni schüttelt den Kopf, sagt, er sei bis zum Aufstieg in den Weltcup nie ernsthaft verletzt gewesen. Wie wichtig das gewesen sei, habe er nach dem Bandscheibenvorfall realisiert. Es geschah im Sommer 2014, er konnte sich kaum mehr bücken. Die Diagnose war hart, die Folge davon härter. Er hing zu Hause herum. «Ich durfte nur das Bein anheben, zweimal am Tag 30 Minuten minimale Bewegung, sonst nichts.» Er langweilte sich, die Ungewissheit machte ihm Angst. Aber er zog das Programm durch, weil er nicht Gefahr laufen wollte, sich später Vorwürfe zu machen. «In diesen Momenten kreisten meine Gedanken erstmals um die Frage, ob es nun vorbei sei oder ich es trotzdem noch an die Spitze schaffen würde.»

Aerni sitzt auf dem Möschberg, schaut gegen Osten, Richtung Emmental, und erinnert sich an eine SMS, die ihm Beat Feuz unmittelbar nach seinem Triumph in der Kombination von St. Moritz geschrieben hat. Es handelte sich um eine abgeänderte Version des Medaillenspiegels. Auf Platz 1 stand: Emmental, zweimal Gold. Weltmeister werden lässt sich auch, wenn jene Berge, die nicht nur dem Namen nach Berge sind, lediglich am Horizont zu sehen sind. Und: Weltmeister werden lässt sich auch, ohne alles erklären zu können.

In loser Folge besucht die Berner Zeitung Berner Sportlerinnen und  Sportler, die an den Olympischen Spielen 2018 im südkoreanischen Pyeongchang (9. bis 25. Februar) für Aufsehen sorgen könnten, an deren Geburts- oder Wohnort.

Autor:in
Micha Jegge, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 04.01.2018
Geändert: 04.01.2018
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