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Ursula Suter: "Es braucht mehr Rentnerinnen und Rentner an der Schule"

Ursula Suter ist Rentnerin und die erste Oberdiessbacherin, die am Drei-Generationen-Projekt win³ teilnahm. Die ehemalige Pflegefachfrau unterstützt seit 2015 Lehrkräfte in der Primarschule Oberdiessbach. Sie hilft im Französischunterricht der dritten und vierten Klasse sowie im Deutschunterricht und NMG (Natur Mensch und Gesellschaft) der ersten und zweiten Klasse. Im Interview erzählt die Seniorin, was ihr an diesem Projekt gefällt und wieso sie es schade findet, dass ausser ihr in der Primarschule niemand mitmacht.

Ursula Suter will mehr Renterinnen und Rentner für das Projekt win³ animieren. (Bild: Adrian Kammer)

Frau Suter, was ist die Idee hinter win³?

win³ ist ein gemeinsames Projekt von Lehrpersonen, Schülerinnen und Schülern sowie Rentnerinnen und Rentnern. Es geht darum, dass RentnerInnen die Lehrkräfte unterstützen und das ist sehr wichtig.

 

Wie funktioniert das in der Praxis?

Die Lehrerin sagt mir, welche Aufgabe ich habe. Das wird schon vorher abgemacht, damit ich mich vorbereiten kann. Häufig teilen wir die Klasse. Dann übernehmen die Lehrerin und ich je eine Hälfte der Kinder. Je nachdem unterstütze ich Kinder im Lesen, Wörter lernen und abfragen. Besonders gerne arbeite ich mit den Kindern, die etwas mehr Mühe mit dem Stoff haben.

 

Was gibt Ihnen diese Arbeit?

Einfach die Lebensfreude der Jugend und zu sehen, dass ich wirklich helfen kann. Man hat immer wieder schöne und herzige Erlebnisse mit den Kindern. Die Freude der Kinder überträgt sich dann auch auf mich. Zudem ist es interessant, zu sehen wie sich der Schulunterricht mit der Zeit verändert hat.

 

Wie hat sich die Schule verändert seit damals, als Sie noch selbst den Unterricht besuchten?

Die Kinder sind heute viel freier. Bei uns war es viel geordneter. Man musste ruhig sein. Man wurde mehr bestraft. Zwischendurch gab es auch mal „eines auf die Finger“. Jetzt ist man viel grosszügiger. Dadurch wird der Unterricht lebendiger, aber es ist auch viel anstrengender. Dann wird es auch schwieriger mit den verschiedenen Migrationshintergründen.  Weiter gibt es Kinder mit Problemen, die mehr Aufmerksamkeit erfordern. Das alles unter einen Hut zu kriegen, ist nicht einfach. Manchmal sehe ich wie Lehrerinnen an ihre Grenzen kommen. Dies hat zur Folge, dass sich die Kinder, die etwas weiter sind, sich langweilen.

 

Wie kam es zu Ihrem Engagement an der Schule Oberdiessbach?

Ich kannte das Projekt bereits von Freunden aus Münsingen und habe damals nachgefragt, ob es das bei uns auch gibt. Dank „Zäme für Oberdiessbach“, kam Win hoch 3 dann auch hier zustande.  Ich begann schon im Jahr 2015. Das musste dann alles organisiert werden und die Schulleitung gab das "OK". 2016 startete das Projekt offiziell hier. Allerdings waren wir schon am Informationsanlass der Pro Senectute nur zu dritt. Zwei Jahre darauf schrieb ich auf Anfrage eines Gemeinderates einen Aufruf im Newsletter. Doch niemand hat sich gemeldet.

 

Welche Voraussetzungen muss jemand mitbringen, wenn er oder sie bei win³ einsteigen möchte?

Man muss natürlich Kinder gernhaben, Zeit haben und sich an das heutige Schulsystem anpassen können. Heute läuft es halt einfach anders und das muss man akzeptieren. Und schlussendlich sollten sie eben auch regelmässig kommen.

 

Wie gross ist das Pensum?

Laut den Vorgaben im Projekt sollte man zwei bis vier Stunden pro Woche einsetzen. Ich mache fünf Stunden. Bei Interesse sind auch die Teilnahme an Exkursionen und Klassenveranstaltungen möglich. Ich gehe zum Beispiel gerne an Elternabende und auf Schulreise.

 

Wieviele Rentnerinnen und Rentner machen jetzt mit?

Ich bin die einzige an der Primarschule und ein Mann hilft noch in der Sekundarschule. Zwei weitere Personen, die nicht zum win3-Projekt gehören, unterstützen den Werkunterricht. Es braucht unbedingt mehr Leute.

 

Was könnten die Gründe sein, dass niemand mitmachen will?

Zum einen denke ich, dass heute viele Rentnerinnen und Rentner schon ihre Grosskinder betreuen, weil die Mütter auch arbeiten. Das finde ich auch richtig so. Dann sind die Grosseltern ein oder zwei Tage mit den Kindern beschäftigt und wollen die restliche Zeit nicht auch noch mit Kindern in der Schule verbringen. Zudem muss man sich bei diesem Projekt ganzjährig verpflichten und kann nicht einfach nach Lust und Laune, wenn es gerade passt helfen. Wir dürfen aber schon Ferien ausserhalb der Schulferien beziehen.

 

Ist denn das überhaupt Aufgabe der Rentnerinnen und Rentner Verantwortung zu übernehmen und den Lehrern zu helfen?

Es ist einfach eine von vielen möglichen Freiwilligenarbeiten, die man machen kann. Man sieht in vielen Berufen, dass weniger Leute die gleiche Arbeit wie früher leisten müssen. Überall wird gespart und deswegen braucht es uns. Mit der gegenwärtigen Situation in der Schule sind die Lehrkräfte häufig am Anschlag.

 

Welchen Einfluss können Sie auf die Gestaltung des Unterrichts nehmen?

Ja ich sage schon meine Meinung und die wird auch geschätzt. Ich komme von aussen und habe einen anderen Blickwinkel, auch weil ich nicht jeden Tag hier bin. Das habe ich schon früher gemerkt, als ich Teilzeit gearbeitet habe. Ich rapportiere dann jeweils, was ich mit meiner Gruppe erlebe und das ist wichtig für die Lehrerin.

 

Welche Gegenleistung erhalten Sie für Ihre Arbeit?

Wir dürfen zweimal im Jahr an eine Weiterbildung von Pro Senectute, die wir selber aussuchen dürfen. Das ist immer sehr interessant. Es gibt zweimal im Jahr zum Austausch mit anderen Rentnerinnen und Rentnern des Projekts. Jährlich wird ein Wertschätzungsanlass durchgeführt, wo man in einem Restaurant bewirtet wird. Es kommt also auch einiges zurück. Allerdings erhält man keinen Lohn. Pro Jahr gibt es einen symbolischen Betrag von 100 Franken und die Spesen werden gedeckt.

 

Wie wichtig ist die Freiwilligenarbeit der Seniorinnen und Senioren?

Es regt mich manchmal auf, wenn die Jungen über die Alten klagen, die sie finanzieren müssen. Dabei wird gar nicht berücksichtigt, dass viele von uns gratis arbeiten und auch immer noch unseren Beitrag leisten. Klar gibt es langsam ein Missverhältnis. Aber wenn man sieht, wie viele Stunden Seniorinnen und Senioren für Freiwilligenarbeit oder Betreuung von Angehörigen und Grosskindern leisten, dann ist das auch Geld. Von Januar bis Juni 2018 haben 92 Freiwillige an 24 Schulen im Kanton Bern 4'973 Stunden geleistet.

 

Was denken Sie, wie lange Sie diese Arbeit noch machen werden?

Daran denke ich noch gar nicht. Aber solange ich noch kann, habe ich Freude. Und wenn beides nicht mehr stimmen sollte, dann werde ich aufhören. Es gibt mir auch eine Struktur im Leben. Das ist mir wichtig. Ich will nicht in den Tag hineinleben. Ich habe ja schon vorher als Krankenschwester in einem sozialen Beruf gearbeitet. Solange ich noch gesund sein darf, will ich auch etwas investieren. Und es geht mir ja wirklich gut.

 

Haben Sie nicht Angst, dass wenn Sie dann doch einmal aufhören, niemand mehr an den Schulen hilft? Eben weil Sie ja die einzige Hilfskraft im Moment sind.

Ehrlich gesagt, habe ich mir diese Frage noch gar nie gestellt. Aber ja. Angst ist vielleicht das falsche Wort. Ich würde es sehr bedauern. Sonst müsste man halt schon mehr Stellen für Lehrkräfte bewilligt werden. Aber das ist auch schwierig.

 

[i] Wer sich für das Projekt interessiert kann sich bei bei der Pro Senectute Emmental-Oberaargau melden.
Projektleiterin ist Jacqueline Seiler, Tel. 062 916 80 90 / jacqueline.seiler@be.prosenectute.ch

 

[i] „win³“ ist ein Generationenprojekt der Pro Senectute im ganzen Kanton Bern. Im Rahmen von Kindergarten und Schule begegnen sich im Generationenprojekt win3 Kinder/Jugendliche, Lehrpersonen und Seniorinnen und Senioren. Die Rentner verbringen regelmässig zwei bis vier Stunden pro Woche in einer Klasse. Sie bilden mit der verantwortlichen Lehrperson ein Tandem und übernehmen entsprechend ihren Fähigkeiten und Interessen zusammen vereinbarte Aufgaben. Die Verantwortung für die Einsätze liegt bei den Lehrpersonen.


Autor:in
Adrian Kammer, adrian.kammer@bern-ost.ch
Nachricht an die Redaktion
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Erstellt: 09.12.2019
Geändert: 09.12.2019
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